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Altwindeck, Wacholderstr. 8, "Zur Linde" 2017

Text | Dorfgeschichten | 04.06.2024

Wo das Dorfleben wilde „Blüten“ treibt

VON SYLVIA SCHMIDT

Männer in Schießer-Unterwäsche, mit der Flasche Bier oder einer Havanna in der Hand, behütet mit obligatorischem Hütchen einer Warengenossenschaft, sie sitzen gerne mal in Schubkarre oder im Handwagen, sie fahren Tandem, sie machen Hand in Hand Heu und sind „Spezialisten“, die sofort laut „HIER“ rufen, wenn es um frohsinnigen Zeitvertreib geht.

Wo gibt es all das noch? Im Dall! In den zwölf Jahren, die ich im „Dall“, in Altwindeck lebe, war ich oft dicht dran, an den Originalen, die sich hier noch die ein oder andere Freiheit erlauben. Dazu muss man wissen, dass wir bis Dezember 2019 in Altwindeck eine eigene Dorfzeitung, die „Däller Rundschau“, herausgegeben haben. Dank der herrlichen Lektüre aus dem Dorf fürs Dorf, gibt es reichlich fotografisches Beweismaterial, was „die Herrschaften“ so alles treiben, um das Dorfleben für sich und andere deutlich aufzuhübschen. An Jahren laufen sie nicht vorne, sondern ziemlich weit hinten mit, in ihren Herzen sind sie stürmisch ins Leben verliebt wir eh und je. Und eines sind sie niemals: langweilig. Sie hören auf Namen wie Johannes Salz, genannt Henni, Dieter Steinhauf, Franz Ottersbach, Bohnen-Hans, Alfred Neukirchen, Rudi Salz um nur einige zu nennen. Darf ich vorstellen: „Forever young“ - für immer jung

Foto: Rüdiger Ziemens

So windschnittig präsentierte sich das Redaktionsteam der Däller Rundschau zur Jubiläumsausgabe Nr. 50 im April 2016. Zu diesem Anlass wollten wir schon etwas Besonderes bringen. In einem rund 300 Seelen-Ort dreimal im Jahr eine Dorfzeitung mit 70 bis 90 Seiten kostenlos für jeden Haushalt in Altwindeck herauszugeben, daran hätte zu Beginn 1999 niemand geglaubt. Unsere Idee zum Geburtstag war es schließlich, den Traum von der ewigen Jugend aus Korn zu nehmen. Während andere viel Geld für Hilfsmittel wie Botox, Silikon, Schönheitsoperationen, falsche Fingernägel und andere Extravaganzen verballern, wollten wir zeigen, dass es gänzlich kostenfrei auch anders geht. Unser Rezept ist es, gemeinsam an einer Sache zu arbeiten, die uns und anderen Spaß macht. Also kramten wir in unseren Kleiderschränken, jeder suchte sich seine Rolle als Berufsjugendlicher selbst aus. Auf dem Bild sind von links die Hippies Franz Ottersbach und Sylvia Schmidt zu sehen, beide schwer berauscht und schnurstracks aus Woodstock eingeflogen. Dieter Steinhauf ist als bekennender Fußballfan außer Rand und Band und führt Hochprozentiges mit sich. Hennis vom Ackerbau gestählter Körper bringt sich windschnittig auf dem Skateboard in Positur. Jürgen Busch hat für unseren Fototermin auf eine Block-Party im New Yorker Untergrund verzichtet. Gisela Leschinger kommt gerade vom Speed-Dating, der Richtige war nicht dabei. Hans-Josef Heggen ist der Nerd, der nur versehentlich von seinem Tablet aufschaut. Marita Schmitt ist gänzlich überwältigt von Punker Egon Isnardy, beide sind wild entschlossen, sich von der Skater-Welle mitreißen zu lassen. Der Spaß, den wir an diesem Abend und zu vielen anderen Anlässen hatten, sind kostbare Erinnerungen, die unvergesslich sind. Der kleinste Kerl der munteren Truppe, Henni im gelben T-Shirt, hat dem Dorf viele Impulse gegeben. So war auch die Däller Rundschau seine Idee. Gegen viele Unkenrufe ließ er nicht locker, bis er einen kleinen Mitarbeiterstab zusammen hatte. Marita, Egon und Franz sind von Anfang an dabei gewesen und Henni war viele Jahre Chefredakteur.

Henni - Hansdampf in allen Gassen

Henni ist ein Mann für alle Fälle. Viele Jahre lang war er Bauer im Ort und mischt bis heute noch gerne fleißig im Dorfleben mit. Durch die gemeinsame Arbeit für die Däller Rundschau habe ich etwas sehr schätzen gelernt bei Altwindecker Ureinwohnern, also Leuten wie Henni, Dieter oder Franz. Sie haben mit der Muttermilch mitbekommen, über sich selbst hinaus fürs Gemeinschaftswohl zu denken. Dazu ist ein großes Maß an Toleranz notwendig, damit jeder seinen Platz im Boot finden kann. Das bleibt nämlich nur über Wasser, wenn es im Gleichgewicht gehalten wird. Ganz schön tricky, denn im Einzelfall können persönliche Grenzen sehr unterschiedlich ausfallen. Aber genau dort beginnt die Kunst. Für den Ruhestand hat Henni sich und seiner Frau Irmgard ein schönes Fachwerkhaus neben seinem alten Hof gebaut. In seiner guten Stube haben wir am langen Tisch viele Jahre die Däller Rundschau zusammengelegt. Das waren unvergessliche schöne Stunden, die vollkommen aus der Zeit zu fallen schienen. Rund zehn Leute trudelten dann bei Henni ein, die einen liefen immer entlang der hohen Papierstapel um den langen Tisch, die anderen hefteten zusammen. In Wahrheit hatten alle ein viel wichtigeres Ziel vor Augen, denn nach der Arbeit wurde gemeinsam an der Tafel Kaffee getrunken und erzählt und dann holte Henni seinen Selbstgemachten, ein oder zwei Runden Kirsch, aber auch Wildfrüchte wie Vogelkirschen, Holunder und Schlehen rinnen nach Hennis Rezeptur vorzüglich wie Balsam die Kehle hinunter. Seit Irmgard Salz pflegebedürftig ist, haben wir uns immer im Haus Gerressen im Museum getroffen. Dort ist es auch schön, aber bei Henni war es am schönsten auf der Welt. Das Paradies ist nicht anderswo

Henni bewirtschaftet mehrere Gärten ums Haus herum, in denen es üppig gedeiht. Alles was die Familie nicht sofort essen kann, wird verarbeitet. Salzen’s Vorratsraum ist ein Traum und fürs Foto stellte Henni eine kleine Auswahl vor. Diverse Bohnen, Sauerkraut, Früchte - alles was sein Herz begehrt, wird eingemacht, getrocknet, was auch immer. Natürlich gibt es auch Mieten für Kartoffeln und Obst.

Aber nicht nur Henni versteht was vom Gemüseanbau, in seiner Generation beherrschen das auch andere Herren im Ort. Kappes & Co. in Reih’ und Glied

Wie fruchtbar Männer-Meditationen sein können, verrät ein Blick in die Nachbargärten. Über den Gartenzaun korrespondiert Henni auf der Leiter bei der Stangenbohnenernte mit Bruder Rudi (+ April 20) in den Kartoffeln und mit Hermann Engel (+ 2017) über die Neuigkeiten aus dem Gemüsebeet. Sie sind Meister in der Herstellung vom „Schwarzes Gold“, den ihre Komposthaufen in Hülle und Fülle hergeben. Ich habe meinen Garten daneben und habe mich in punkto Hutmode von der Warengenossenschaft den Herren angepasst.

Mit Rudi Salz (+ April 20) habe ich zehn Jahre lang etliche herrliche Stunden in seinem Garten verbracht. Dort hatte er mir ein Stück abgetreten. Ich habe zwar rund um mein Haus einen großen Garten, aber das ist natürlich nicht halb so attraktiv, wie mit einem alten Gartenfuchs gemeinsame Sache zu machen. Rudi wusste im Garten genau, was er tat und kombinierte das mit dieser fantastischen Gemütlichkeit, die sich durch nichts auf der Welt drängen lasse. So achtete Rudi akribisch auf die Signale seines Körpers, der riet ihm gelegentlich zu einer kleinen Pause. Rudi hatte die Schubkarre immer griffbereit. Die ganze Bückerei lässt sich mit einem Fläschchen Bier gleich viel besser an. Hurra, wir machen Heu Das nächste Bild wurde mir jahrelang statt Fernsehen ins Wohnzimmer geliefert. Wenn bei Christoph Nacken das Gras erntereif war, hatte ich Ausblick auf dieses herrliche Premium-Programm. Alfred Neukirchen, Rudi Salz, Bohnen-Hans und Henni kommen Christoph zur Hilfe. Leider ersetzt mittlerweile ein starker Mäher die Herren, deren Einsatz immer in einer lustigen Runde unter einer Eiche endete.

Überhaupt enden im Dorf die Zusammentreffen schwer gemütlich. Absolutes jährliches Highlight ist das Kranzbinden vor Fronleichnam an den Standorten in der Bitze und im Dall. In der Bitze trifft sich die Nachbarschaft samstags vor dem höchsten Däller Feiertag auf der großen Wiese bei Annemie und Karl Hasenbach.

Reihe v. hinten li.: Anne Steinhauf, Karin Jödden, Marion Stöbner, Rita Brosowski, Marie-Luise Nacken, Käthe Brokop, Alfred Neukirchen, Annemie Hasenbach und Rita Neukirchen. Ja, was guckst Du?

Rudi hielt auf einer Feier im Dorfhaus ein Mittagsschläfchen, na und? Das ist nach einem mehrgängigen Essen wohl auch angebracht.

Die Freizeit-Optimierer

Ansonsten haben die Rentner natürlich jede Menge Freizeit und sie sind extrem gewieft darin, das Optimale aus einem 24 Stunden-Tag herauszuholen. Henni ist beispielsweise ein leidenschaftlicher Partygänger, der ohne schwerwiegenden Grund keine Einladung absagt und gerne auch selbst einlädt, am liebsten feiert er mit dem ganzen Dorf. Zu vorgerückter Stunde wächst sein Mut gerne schonmal ins Unermessliche. Zu einer Tandemrundfahrt mit meinem mehr als 50 Jahre jüngeren Sohn Max ließ er sich nicht zweimal bitten. Und wer hat das Steuer in der Hand? Natürlich Henni! Däller Verkehrsexperten zeigen vorbildliches Verhalten im Straßenverkehr Tandem, Schubkarre - generell sind die Däller auf Rädern gut unterwegs. Vorbildliches Fahrverhalten beweisen unsere Däller Verkehrsexperten und auch auf die passende Kleidung legen sie bei Ausfahrten großen Wert. Hier steuert Franz Ottersbach mit 25 Kilometer in der Stunde einen Schwertransport namens Dieter Steinhauf. Selbstverständlich waren beide mit Warnwesten ausgerüstet.

Spielplatz Heimatmuseum

Solange die Herren sich draußen auf der Straße rumtreiben, brauchen ihre Frauen sich keine Sorgen zu machen. Aber wehe, wenn sie das Licht scheuen, dann hängen sie vermutlich im Museum ab. Hier sieht man Butze (Andreas Lutz; Vorsitzender vom Förderverein des Heimatmuseums) und Dieter Steinhauf in der 50er Jahre Ausstellung bei windigen Geschäften unter Einsatz von Hochprozentigem gegen den großen Durst. Im Beichtstuhl Manchmal sucht Dieter Ruhe von seinen zahlreichen Aktivitäten. Der Beichtstuhl im Museum ist für ihn ein idealer Ort, um ungestört in sich zu gehen und sein Leben schön zu sortieren. „Im Beichtstuhl finde ich Kraft und Inspiration für den Alltag“, schwärmte er von seinen einsamen Besuchen. Eines Tages, er machte gerade ein Nickerchen, raunte eine weibliche Stimme ihm ihre Verfehlungen ins Ohr. Was tun?

Dieter entschloss sich, der Sünderin erst einmal eine volle Packung zu verabreichen, denn das ist das Mindeste was Bußfertige von einem guten Beichtvater erwarten. Also polterte er los, um ordentlich Wirkung zu erzeugen. Prompt fiel die Sünderin gänzlich zerknirscht in sich zusammen. Das stimmte Dieter sehr, sehr milde. Großzügig versprach er vollkommene Vergebung nach Herunterleiern des „Ave Maria“ dreimal täglich ein halbes Jahr lang. Die Sünderin war glücklich, dass ihr so gut geholfen wurde. Nicht ohne meinen Feinripp Die beste Aktion, die die Herren im Dall angezettelt haben, war die Sache mit der Schiesser-Unterwäsche. Die Nachricht, der Traditions-Wäscheherstellers Schiesser habe Insolvenz angemeldet, trieb Walter Wodtke, Dieter Steinhauf und Johannes Salz Angstschweiß um ihre heißgeliebten Trikotagen auf die Stirn. Noch nie hatte etwas anderes als Schiesser Fein- und Doppelripp ihre zarte Haut umschmeichelt. Um ihre nackte Haut zu retten, marschierte das Trio im blütenweißen Ripp vor dem Museum auf. „Ohne Hilfe von Frau Merkel wären wir wie nackte Ferkel“, jammerten sie. „Ohne Schiesser-Unterwäsche kriecht die Kälte ans Gemäsche.“

Foto: Michael Thielen 1


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