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Herchener Originale

Text | Personen | 01.01.1969

von Franz-Josef Monschau 

Monschau schrieb in diesem Beitrag für unsere Windecker Heimatgeschichten Band 1, u. a. über die kommunalpolitische Sternstunde des „Klöös“. Der ist seither in meinem Gedächtnis eingebrannt. Selten habe ich so gelacht. Also bis zum Ende lesen! 

Zur Erinnerung an Franz-Josef Monschau + (vorne links), hier im Jahr 2019 in der ersten Reihe auf dem Pfarrkarneval in Herchen. Foto: Sylvia Schmidt
Beliebt und geachtet war der verstorbene Franz Gnacke. Viele der heutigen Herchener Neubürger haben ihn leider nicht mehr kennenlernen können. Eigentlich war er Schuhmachermeister, seine Werkstatt lag mitten im Dorf, gegenüber der Dorfkneipe „Siegtaler Hof“ und (Zitat) „der Kirche untertan und unterlegen!“ Sein Haus befand sich nämlich unterhalb der St.‐Petrus‐Pfarrkirche, daher „unterlegen. Und weil er auch kleine Dienste übernommen hatte (z. B. dreimal täglich Läuten), fühlte er sich als „Untertan“. Aus vielerlei Gründen war er bekannt und beliebt. 
In jungen Jahren galt er als talentierter Fußballer, der vor allem durch Ballbeherrschung, sportlichen Anstand und Fröhlichkeit auch seine Gegenspieler beeindruckte. Bald schon entdeckte man seine besondere Beobachtungsgabe und seinen feinsinnigen Humor. Er wusste spitzzüngig‐humorvoll Personen und Vorkommnisse zu kommentieren und war als Büttenredner der Star jeder Karnevalssitzung. Man kannte ihn als die „Seele des Herchener Karnevals“. Seine Werkstatt wurde zum Nachrichten‐Umschlagplatz. Die Höh’scher, Gerressener, Stromberger, Röcklinger verabredeten sich „beim Franz“, wenn es auf dem Bürgermeisteramt oder beim Pfarrer etwas zu erledigen gab. Wichtige Mitteilungen an die Dörfler der Umgebung wurden „beim Franz“ hinterlegt. Dort erfuhr man jede Neuigkeit und den reichlich vorhandenen Dorfklatsch. Er wusste stets guten Rat für alle Lebenslagen, redete viel und gern. Seine humorvollen Kommentare trafen immer den Kern einer Angelegenheit und waren gefragt. 
Eine Geschichte werde ich nie vergessen: Es war an einem Donnerstag. Das weiß ich deshalb so genau, weil an diesem Tag die beiden Pfarrer auf der Höhe ihren Religionsunterricht erteilten, und anschließend unterrichtete Frau Reiche aus Stromberg die Kinder meiner Schule im Fach „Kunst & Handarbeit“. Das gab 83 mir Gelegenheit, Wichtiges auf dem Gemeindeamt zu erledigen und – natürlich – auch für einen „Klaaf“ beim Franz. Es war kurz vor Mittag, und unser Schuhmachermeister war nicht da. Die Werkstatt stand wie immer weit of-fen, „et Kathrin’chen“ klapperte in der Küche mit den Kochtöpfen, aber die Werkstatt war leer. Franz war mal eben zur Kirche hinaufgestiegen und versah seinen Dienst beim Angelus‐Läuten: dreimal kurz und dann noch einmal zwei Minuten. 
Normalerweise blieb man als Besucher dann in der Werkstatt, döste oder las in einer der herumliegenden Zeitschriften, bis der Meister zurückkam. Heute schien die Sonne, und ich ging vor die Tür. Da hielt gegenüber ein PKW mit fremdem Kennzeichen, ein Paar stieg aus und sah sich forschend um. Ich ging über die Straße auf die Fremdlinge zu und fragte, ob ich ihnen irgendwie helfen könnte. In diesem Augenblick kam Franz die hohe, steinerne Kirchentreppe herab und gesellte sich uns zu. Von diesem Augenblick an hatte ich Redeverbot und Franz einige Fragen zu beantworten. 
Das geschah in bekannter, bewährter und humorvoller Weise. Franz war in seinem Element. Man hätte die erbetenen Auskünfte durchaus in höchstens zwei Minuten erteilen können, doch es wurde mindestens eine Viertelstunde daraus. Dann endlich (auch ein Franz Gnacke muss ja mal Luft holen) nutzte die fremde Dame diesen Zeitpunkt: Sie bedankte sich für die ausführlichen und interessanten Ausführungen und wollte unbedingt wissen, mit wem sie es zu tun habe: „Wer sind Sie und welch wichtige Rolle spielen Sie hier?“ Und unser Unikum? – „Ja wissen Sie, das ist leicht und kurz gesagt: ICH BIN DER LÄUTNANT VON HERCHEN!“ – Ja, so war er, der Franz! 
Franz hatte damals auch einen Zuträger, der ihn täglich und bei jedem Wetter mit Informationen versorgte: Der „Weltgens Jupp“, auch ein Herchener Original. Der Ärmste war seit seiner Geburt gelähmt, konnte sich nur im Rollstuhl fortbewegen, galt aber als „omnipräsent“. Trotz seines Handikaps entging ihm nichts, und er war das lebende Lexikon über Herchens Bürger. In seinem wirklich phänomenalen Gedächtnis hatte er die persönlichen Daten a l l e r Mitbürger gespeichert. Das betraf aber nicht nur seine Herchener Landsleute. Er hielt auch die Daten der wichtigsten Leute in den Nachbarorten in seinem Kopf gefangen. Hier einige Beispiele: 
Jupp kommt auf der Hauptstraße einem Landwirt aus Gerressen entgegen: „Morjen Gerhard! Haste schon de Blumen jekauft?“ – ? ? ? – „Sag bloß, du hast euren 32. Hochzeitstag verjessen!“ 
Oder: „Hallo Franz‐Jupp! Grüß‘ dein‘ Frau von mir un jibb ihr morjen früh ‘nen dicken Kuss von mir! Die wird morjen 24!“ 
Jupp lebte mit seiner Mutter und Schwester Anni in einem Haus nahe der St.‐Antonius‐Kapelle. Da er nie hatte arbeiten können, stand ihm eigentlich eine (nur sehr) bescheidene Grundrente zu. So betrieb er in dem kleinen Anbau seines Elternhauses ein Lädchen, in welchem man Tabakwaren, Süßigkeiten, Schulhefte und auch mal eine Flasche Bier oder ein einzelnes Schnäps’chen erstehen konnte. (Letzteres durfte offiziell niemand wissen, war jedoch allgemein bekannt!) Wer ihn nicht kannte, hielt ihn aufgrund seines Aussehens und seiner Gebrechen für dement; aber seine umfangreichen Kenntnisse sowie die Fähigkeit, Zahlen und Daten speichern zu können, bewiesen das Gegenteil. 
Die endlose Liste alter Herchener Typen sei abgerundet mit einem biederen, fleißigen und mitunter recht schlitzohrigen Handwerksmeister, der mit Vornamen eigentlich Nikolaus hieß. Bekannt war er allen jedoch als der „Klöös“. Ja, der „Klöös“ war schon ein Unikum, stets gut gelaunt und als Installateur für Herchen unersetzlich. Nebenbei war er politisch interessiert und saß für die, wie er sagte, Unternehmerpartei auch im Gemeinderat. Dort glänzte er mit praktischen Vorschlägen und gesundem Menschenverstand. Wenn er das Wort er-griff, hörte alles gespannt zu, denn dann stand Fröhliches zu erwarten: trotz seines gesunden Menschenverstandes hatte er eine Schwäche, und das war sein Umgang mit Fremdwörtern. Ein Parlamentsabgeordneter, auch auf der niederen Ebene der Kommunalpolitik, wirkt nun mal umso überzeugender, je häufiger er mit Fremdwörtern seine Reden würzt. Sich selbst bezeichnete er zum Beispiel einmal als den „Mondor“ der Ratsarbeit. 
Sein Glanzstück aber lieferte er, als es um eine wichtige schulpolitische Entscheidung ging: Im Jahr 1969 waren die Gemeinden Rosbach, Dattenfeld und Herchen zur Flächengemeinde Windeck zusammengeführt worden. Mit der fast gleichzeitig durchgeführten Schulreform wurden die insgesamt neun Kleinstschulen der Alt-gemeinde Herchen (bis auf eine dreiklassige sämtlich ein‐ oder zweiklassig) auf nur noch zwei große Systeme „rezundiert“. Von denen sollte eines als Grund‐ und das andere als Grund‐ und Hauptschule geführt werden. Mal abgesehen davon, dass später ohnehin alles völlig anders kam, stand der Rat der Gemeinde vor der Entscheidung „Hauptschule in Herchen oder Leuscheid?“ 
Da schlug die kommunalpolitische Sternstunde des „Klöös“! „Meine Herren! (Damen gab es damals noch nicht im Gemeinderat!) Abgesehen vom Fehlen eines Fitzanierungsplanes durch kompostente Spezigalisten ist es ein Unding, die Hauptschule ausgerechnet nach Löschend an die Parfumerie der Gemeinde zu platzieren.“


Am Knippen - Kirche St. PeterHerchen