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Onkel Jupp

Text | Personen | 01.01.1909

ein Löschender Original
Von Zita Reddmann
Es ist Ostern 2020 und ich werde einen Ausflug machen, eine Reise zu den Erinnerungen meiner Kindheit und Jugend, zu einem Menschen, der immer noch in meinem Leben präsent ist, obwohl er schon vor 35 Jahren starb – zu meinem Onkel Jupp.

Zita Reddmann, geb. Penni, mit ihrem Großonkel Onkel Jupp. 

Onkel Jupp war das vierte Kind von sechs Geschwistern und wurde im Jahre 1909 hier in Leuscheid geboren. Von der Wiege bis zur Bahre lebte er in seinem Elternhaus. Vor wenigen Jahren bin ich in genau dieses gezogen, in das Haus mit den Geschichten eines lustigen, zugewandten und etwas anderen Onkels. Genau genommen war er mein Großonkel väterlicherseits, ich nannte ihn aber stets Onkel Jupp.
Onkel Jupp war Junggeselle, Schuhmachermeister und leidenschaftlicher Jäger. Mein Vater meinte immer, er sei auch noch Lebenskünstler gewesen. In mir hat er Spuren hinterlassen. Wir Kinder liebten es auf seinem Hof zu spielen, auf die Bäume zu klettern, im Schuppen alle Gerätschaften auszuprobieren, aber auch auf seiner Holzkiste in der Küche zu sitzen und seinen Erzählungen zu lauschen. Er ließ uns gewähren, war aber dennoch interessiert an unserer kleinen Welt. Wir lachten viel mit ihm.
Ich glaube die Menschen waren gerne mit meinem Großonkel zusammen, weil er die Fähigkeit besaß, andere zu unterhalten mit einer ganz besonderen Art von Humor. Viele Türen standen ihm offen. Besitz war ihm nicht wichtig, er war genügsam und großzügig. Erwähnenswert ist jedoch die Tatsache, dass er von meinen Eltern versorgt wurde und ihm so der „Luxus“ dieses Lebens möglich war.


Neffe Jüppchen Penni mit Onkel Jupp um 1960 

Wie war es denn nun, sein Leben?
Einfach und selbstbestimmt, im besten Sinne. 
Sein Heim war seine Küche, von der aus man sofort in den Hof trat. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Sofa für den regelmäßigen Mittagsschlaf, ein Küchenschrank, ein Holzofen, eine Holzkiste und ein Waschbecken zählten zum Inventar. Das angrenzende Schlafzimmer wurde nie geheizt. Abends ließ er die Küchentür offen, damit die Restwärme in die Nachtstube zog. Im Winter zierten oft Eisblumen das Fenster. Das Wohnzimmer wurde nur ein einziges Mal im Jahr genutzt, Heilig Abend. Der selbstgeschlagene Weihnachtsbaum mit altem Schmuck drehte sich dann in einem silbernen Christbaumständer, der Stille Nacht spielte. Die restlichen Zimmer, in denen früher seine Schwester lebte, nutzte er nicht. Es gab noch ein „stilles Örtchen“, draußen auf dem Hof.

Alle Fotos: Penni 

Zu seinem Heim zählten aber auch ein schöner Obst- und Gemüsegarten, Wiesenland und Tierstallungen. Er züchtete Kaninchen und hielt Hühner. Die Hennen lebten frei, waren nicht in einen Pferch eingesperrt. Somit hatten diese auch stets die Möglichkeit durch die Küche zu spazieren. Es waren glückliche Hinkel, solange sie nicht auf der Straße plattgefahren wurden. Mein Vater, der sich um Haus und Hof kümmerte, wollte des Öfteren ein Gehege für das Federvieh bauen. Aber nein, das wollte mein Großonkel nie. Er meinte, die Hühner würden die Gefahr kennen und hätten ihm versprochen, den Hof nicht zu verlassen. So war es schon stets ein Slalom ihn zu besuchen, weil überall Tretminen rumlagen.

Die Schuhmacherei lohnte sich nach dem Krieg nicht mehr. Onkel Jupp arbeitete dann immer mal hier mal dort und schließlich einige Jahre bei „Lands Apfelkraut“ in Herchen. Seine Rente war entsprechend niedrig.
Der Verkauf von Eiern war somit einer seiner Zuverdienste. Seine besten Kundinnen waren Kurgäste aus den Versehrtenheimen „Haus Westerwald und Waldesruh“, die in den 60er und 70er Jahren gut besucht waren. Meist waren es Witwen, die im Leuscheider-Land Erholung suchten. Es dauerte nie lange bis sie den Weg zu Onkel Jupp und seinem Warenangebot fanden. Dazu zählten neben den Eiern auch Obst, selbst hergestellte Wanderstöcke und Kerzenleuchter. Außerdem war er für verschlissenes Schuhwerk zuständig. 
Mein Großonkel hatte seine helle Freude an der städtischen Unwissenheit einzelner über das Landleben. In Erinnerung ist mir seine Schilderung einer besonders interessierten Witwe geblieben, die sich wunderte, warum das Huhn den Hahn spazieren trug. „Der stempelt die Eier“, war seine nüchterne Erklärung. Auf die Frage, ob denn jedes Huhn tatsächlich ein Ei pro Tag lege, sagte er: „Selbstverständlich, und wenn ich Glück habe geben die für sonntags noch die Kaffeemilch dazu.“ 
Sein Verkaufstalent war außergewöhnlich. Er überzeugte selbst die rüstigsten Kurgäste von der Notwendigkeit einen Stock zu benutzen. Sein Streben nach Gewinn war eher unterentwickelt. Nach jedem Verkauf wurde dieser erstmal mit einem Gläschen Wacholder besiegelt. Getrunken wurde aus Schnapsgläsern, die keiner Hygienekontrolle Stand gehalten hätten. Aber egal, Hauptsache die Stimmung war gut. 
Sein Gemüsegarten lag direkt an der Straße. So hatte Onkel Jupp stets die Gelegenheit ein Schwätzchen zu halten. Gesprächsstoff und Zuschauer gab es genug. „Entschuldigen Sie, was pflanzen Sie denn da?“ „Diese Woche Leberwurstpflänzchen und Flaschenbier.“ Die Menschen reagierten sehr selten beleidigt. Das lag wohl an seiner besonderen Art, an seinem humorigen Tonfall und sicherlich auch am „Lüschender Platt“.
Ein Hercules Mofa, auf das er unglaublich stolz und welches er ohne Fahrerlaubnis fahren durfte, war sein einzig materieller Luxus. Einen Führerschein besaß er nämlich nicht. In Altenkirchen besorgte mein Großonkel sich regelmäßig Reparaturmaterial für sein Schusterhandwerk. Jetzt, motorisiert, konnte er einkaufen, wann es ihm gefiel und das Wetter es zuließ. Seine Freude über die neugewonnene Freiheit bekam jedoch bald einige Schrammen. Wagemutig hatte er sich auf den Weg in die Stadt gemacht, um auf Höhe des Cafés „Süße Ecke“ festzustellen, dass er die Verkehrsregeln nicht wirklich beherrschte. Verunsichert, wer denn nun Vorfahrt hatte, hielt er an und regelte den fließenden Verkehr selbst, indem er den Autofahrern zuwinkte und ihnen freie Fahrt signalisierte. Er aber kam einfach nie dran, weil zu viele Leute unterwegs waren. Irgendwann kam ihm die Polizei zur Hilfe. Ein freundlicher Schupo drückte beide Augen zu und riet ihm, das nächste Mal sein Zweirad vor den Toren der Stadt zu parken. So geschah es dann auch. Bei jeder weiteren Einkaufstour stellte er sein Mofa am „Galgenberg“ ab und ging zu Fuß in die Stadt. 
Nachdem meine Urgroßmutter verstorben war, lösten meine Eltern ihren Hausstand auf. Sie fragten Onkel Jupp, ob er denn nicht ihren Kühlschrank haben wolle. Seine Getränke und Speisen lagerten im Küchenschrank, weil er eben einen solchen nicht besaß. Begeistert nahm er das neue Inventar in Betrieb, bis zur nächsten Stromablesung. Damals war es ja noch so, dass Wasser und Strom monatlich abgelesen und der Verbrauch gleich in bar bezahlt wurde. Der Strommann scherzte jedes Mal: „Jupp, bei Dir verdien ich das Salz in der Suppe nicht. Dein Stromrädchen hat sich ja wieder nicht bewegt.“ Seine einzige Stromquelle war die Küchenlampe und meist saß er abends noch im Dunkeln. Nach der Kühlschrankinbetriebnahme staunte aber auch der Stromableser nicht schlecht. Endlich mal ein Verbrauch. Darauf erstmal einen kühlen Wacholder. Entsetzt über die Höhe des Stromgeldes wurde der Kühlschrank sofort wieder vom Netz genommen. Pragmatisch wie mein Großonkel war, entschied er sich fortan den Eiskasten zur Aufbewahrung seiner Schuhreparaturmaterialien zu nutzen. Kleber statt Quark, Schuhsohlen statt Wurst, Nägel statt Butter usw. Heute würde man sagen: In der Küche stand ein „FAKE Schrank“.
„Drei Tage vor Weihnachten, böser Zahnarzt nimmt Frau Gebiss weg.“ Ich war noch Kind, konnte aber schon lesen, und diese Schlagzeile der BILD Zeitung ist mir im Gedächtnis geblieben. Mein Vater hatte meinem Großonkel kurz vor Weihnachten die Küche gestrichen. Nachdem er mit der Malerei fertig war, klebte Onkel Jupp die oben erwähnte Doppelseite des Boulevardblattes an die neu renovierte Wand über dem Spülstein und stellte die frisch lackierten Holzstöcke zum Trocknen dagegen. Jahre später konnte man immer noch von diesem herzlosen Zahnarzt lesen.
Anfang der 70er kamen Maximäntel groß in Mode. Zu Weihnachten hatte ich mir in Köln ein beerenfarbenes, bodenlanges Modell mit Knebelverschlüssen ausgesucht. Mein Großonkel zeigte sich mir gegenüber stets großzügig, auch wenn er selbst nicht viel besaß. Ich war mir sehr sicher den Mantel geschenkt zu bekommen. Am ersten Weihnachtsfeiertag ging ich immer mit ihm in die Kirche. So auch in jenem Jahr. Als ich ihn abholte, überreichte er mir mein Geschenk. Ich wusste, es war dieser Mantel. Voller Stolz zog ich das modische Teil an und freute mich auf den Kirchgang. Was ich nicht wusste war, dass Onkel Jupp auch einen Maximantel bekommen hatte. Allerdings in schwarz und ein paar Nummern zu groß, so nach dem Motto: „Gab es den nicht in deiner Größe?“ Begeistert erzählte er, dass eine Besucherin aus dem Kurheim ihm zum Fest ein Paket mit der Kleidung ihres verstorbenen Mannes geschickt hatte. Seine Kleidergröße hatte sie wahrscheinlich nicht mehr in Erinnerung, als sie ihn bedachte. Wir gingen dann zur Kirche, unsere Mäntel schleiften durch den Schnee, meine Freude schmolz dahin. Es war mir schon peinlich, so mit ihm gesehen zu werden. Onkel Jupp sah es von der praktischen Seite. Er hatte einen warmen Mantel und dazu noch völlig umsonst. 
Dies sind ein paar Geschichten aus dem Leben von Josef Penni, dem alten Jupp, die ich so erinnere. Es gibt noch viele mehr. Die Auswahl fiel mir nicht leicht.
In diesen Zeiten ist es, so glaube ich, für uns alle wichtig ein wenig Leichtigkeit in unser Leben zu holen. Sei es aus der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft.
Zita Reddmann


Weyerbuscher Straße 31Leuscheid