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Orgeldreher Wellem - 1941

Text | Personen | 27.11.2023

Vom Sängerkrieg mit dem Orgeldreher Wellem aus Leuscheid

Hier noch eine Anekdote aus der Feder des in Eitorf geborenen Journalisten Martin Selt über den „Sängerkrieg“ mit dem Orgeldreher Wellem aus Leuscheid, ebenfalls 1941 in seiner Broschüre "Alt-Eitorfer Originale" erschienen. Selt wollte mit seinen Anekdoten seiner Heimat und ihren liebenswürdig verrückten Menschen ein Denkmal setzen.

Diese Geschichte vom "konservatorisch gebildeten Orgeldreher" ist im Herbst 2023 in den aktuellen Heimatblättern Eitorf erschienen, zusammengestellt von Mirja Renout zum Beitrag „Streiche Anno Dazumal“.

Karl Schröder fand diese und andere Geschichten zufällig in alten Ausgaben des "Westdeutschen Beobachters" und veröffentlichte sie in den Eitorfer Heimatblättern 2/85, 3/86 und 4/87. Im Heimatblatt 2/85 ist ebenfalls eine Kurzbiografie über Martin Selt zu finden, recherchiert und niedergeschrieben von Ulrich Neißkenwirth. Vom Orgeldreher Wellem gibt es leider kein Foto.

Der Sängerkrieg

von Martin Selt 

Der Orgeldreher Wellem aus Leuscheid hatte hinterwärts, was der Rheinländer in seiner liebenswürdigen Art einen "kleinen Verdruß" zu nennen beliebt. In unserem besonderen Falle war das sehr schonend ausgedrückt, denn eigentlich bestand der kleine Mann aus einem mächtigen Höcker mit menschlichen Gliedmaßen dran. Sein Örgelchen hatte die Größe einer mäßigen Zigarrenkiste, und die Tonstärke des Instruments entsprach seinen Ausdehnungen. Wellem hatte zwei Lieder auf der Walze. Das erste war nach Angabe von Musikkennern die Arie des frivolen Herzogs aus Rigoletto: "O wie so trügerisch... ." Man musste das auf Treu und Glauben hinnehmen, denn die asthmatischen Seufzer, die immer da auftraten, wo auf der Walze ein paar Töne fehlten, verlangten die Mithilfe der Fantasie des Hörers. Einwandfrei aber ließ sich die zweite Melodie als ein getragener Choral erkennen.

Nun hätte man ja annehmen können, mit solch dünnem Repertoire sei kein Blumentopf zu gewinnen gewesen. Aber was unserem Wellem an Musik fehlte, das ersetzte er durch den Vortrag der jeweils neuesten Schlager, die bei uns Jungen summarisch "Kirmeslieder" hießen. Damals war gerade ein Lied von Millöcker in Schwang, dessen Kehrreim ungefähr so lautete:

Fischerin, Du Kleine,

Fahre nicht alleine,

Fahre nicht bei Sturmgebraus

Auf das wilde Meer hinaus!

Es war eine Schunkelmelodie, leise durchzittert von Wehmut, und wenn ich sie heute höre, dann kriege ich jedesmal ein ganz dickes Herz. Das zweite Lied war fescher. Es stammte aus Preussisch-Berlin und ist auch heute noch bekannt als Grunewald-Polka. Wellem, in seinem Leuscheider Dialekt, sang das ungefähr so:

Em Thronewald, em Thronewald es Holzaktion!

Wenn man ihn darauf hinwies, dass das doch nicht richtig sei, weil es in Wirklichkeit "Auktion" heiße, so setzte sich unser Wellem auf die Hinterbeine. Allem Anschein nach war er ein verkappter Aktivist.

Wenn Wellem sang, so diente der "kleine Verdruß" als Resonanzboden. Es klang wie aus einem Kellergewölbe, mit dumpfem Nachhall, und die Dorfköter sangen heulend die Begleitung dazu. Aber da unser Musikant ein so putziges Männchen war, klapperte doch so mancher Groschen in seinen Teller, und er hätte namentlich zur Kirmes ein schönes Leben führen können, wenn nicht die böse Konkurrenz gewesen wäre. Da strolchte nämlich ein langer Kerl umher, der ebenfalls eine Orgel hatte, die nach seiner Angabe "tirekt" aus Italien stammte. Wie der Mann geheißen hat, weiß ich nicht mehr. Aber heute noch ist mir sein ewiger Fuseldunst in der Nase, wenn er die Stimme zum Gesang erhob. Wenn die beiden Musikanten sich in einem Lokal begegneten, dann war es immer der Wellem, der das Feld räumte. Der Lange war ein Krakeeler und duldete keine anderen Götter neben sich. Das brachte meinen Vater, der immer auf einen harmlosen Streich aus war, auf eine Idee. Er nahm sich die beiden Orgelsmänner vor, jeden einzeln natürlich, und setzte ihnen einen Floh ins Ohr. Dem Langen sagte er, der Wellem werde Klage gegen ihn erheben, weil er unberechtigt die Musik ausübe. Er, Wellem, habe in Köln auf dem Konservatorium für Musik studiert und könne ein Attest ausweisen. In ähnlicher Form wurde dem Manne mit dem kleinen Verdruß die Hölle heiß gemacht. Als Ausweg schlug mein Vater vor, die beiden Herren möchten sich doch am Kirmesdienstagmittag im Hotel "Prinz Carl" am Marktplatz einfinden, um sich einer Kommission vorzustellen. Sie kamen auch, und die Kommission war gleichfalls da: vier würdige Handwerker, die sich zur Feier des Tages den Gehrock angezogen und den Zylinder aufs Haupt gestülpt hatten, und die nun mit feierlicher Miene an einem Tisch saßen.

Gesellschaft im Prinz Carl 1910. Foto: Heimatverein Eitorf

Und nun ging der Wettstreit los. Den beiden Musikanten war die Wahl ihrer Beiträge freigestellt. Die Bedingung war aber, dass beide zur gleichen Zeit spielten und sangen. Das gab ein unbeschreibliches Durcheinander von Tönen und Melodien, und da sich die Gemüter der beiden Vortragenden immer mehr erhitzten, so konnte nachher von Gesang überhaupt nicht mehr die Rede sein. Die Kommission machte sich eifrig Notizen und biß sich auf die Lippen, um nicht in Lachen auszubrechen. Vater war Schiedsrichter. Sein Spruch ging dahin, dass man Wellem die Siegespalme zuerkennen müsse, weil er am lautesten gesungen habe. Jetzt wollte der Lange rabiat werden. Aber auch darauf war man vorbereitet und setzte ihn mit sanftem Schwung vor die Tür, wo er noch eine ganze Weile schimpfte und wetterte. In Eitorf wurde er nicht mehr gesehen, und keiner weinte ihm eine Träne nach, weil man wußte, dass er gelegentlich lange Finger machte.

Wellem aber kriegte einen Lorbeerkranz aufs Haupt und sang mit noch mehr Hingabe als vorher: "Em Thronewald, em Thronewald es Holzaktion!"

Herzlichen Dank an den Heimatverein Eitorf für die Erlaubnis zur Veröffentlichung!