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Die illustren Bestgens aus der Türmchensvilla

Text | Dorfgeschichten, Personen | 01.01.1955

von Sylvia Schmidt nach Aufzeichnungen von Theresia Orthmann






Am 28. Juni 2020 erhielt ich die traurige Nachricht, dass meine Nachbarin aus Kindertagen, Theresia Orthmann aus Schladern, im Alter von 81 Jahren gestorben war. Sie hatte im Januar des Jahres bei unserem monatlichen WiWa-Erzählformat „Auf Sendung“ hinreißend zum Thema „Frau Orthmann und die illustren Bestgens aus der Türmchensvilla“ unterhalten.

Später erzählte sie mir, wie aufgeregt sie vorher gewesen wäre. Auf dem Hinweg hätte sie mit sich gehadert, so leichtsinnig zugesagt zu haben, zu erzählen. Hinterher wäre sie aber selig gewesen, denn in unserem Treffpunkt im Café im Schladerner Bahnhof herrschte Ausnahmezustand.



Der Ansturm war unglaublich, es wurde zusammengerückt bis doppelt so viele Besucher untergebracht waren, als normalerweise Sitzgelegenheiten vorhanden sind.



Die Zuhörer wurden mit schillernden Geschichten belohnt.



Es war wohl am Ende niemand dort, der nicht gerne Familienmitglied bei den menschenfreundlichen Bestgens gewesen wäre. Ach, wäre das schön gewesen. Wir hatten schon einen Termin vereinbart, weil sie für WiWa ihr Material zu einer Geschichte verarbeiten wollte. Dazu war sie nun nicht mehr dazu gekommen.
Ihre Kinder haben mir dann freundlicherweise die Notizen zur Verfügung gestellt. Aus Theresias losen Aufzeichnungen und aus meinen eigenen Erinnerungen und Notizen schreibe ich stellvertretend für sie die Geschichte auf. Sie hat uns einen unvergesslichen Nachmittag beschert und fehlt auch heute, drei Jahre nach ihrem Tod, immer noch mit ihrer menschenfreundlichen Art und mit ihren Geschichten.
Und nun lassen wir Theresia erzählen:



„Über viele Jahre ging ich bei der Familie Bestgen ein und aus; seit meinem Eintritt in die Firma Elmore’s im Jahr 1955. Mit Helga, der Tochter von Leo und Klara Bestgen, die in der Auslands-Export-Abteilung arbeitete, freundete ich mich an, und diese Freundschaft dauerte bis zu Helgas Lebensende.
Bestgens waren wirklich eine besondere Familie. Sie wohnten in der Türmchensvilla am Bahnweg von Schladern nach Dattenfeld.



Hier wohnten die Bestgen-Brüder und Schwester Martha: Leo mit Ehefrau Klara und Tochter Helga und Sohn Norbert. Herbert mit Ehefrau Seppi (Josefine) und der verwitwete Otto mit Schwester Martha in friedvollem Miteinander.
Der Vater der Geschwister, Heinrich Bestgen aus Dattenfeld, hatte ursprünglich als 19-Jähriger den Antrag auf Auswanderung in die USA gestellt. Er beabsichtigte in New-Mexico in das Geschäft seines Cousins einzusteigen. Ob, oder wie lange er dort war, ist nicht bekannt. Er heiratete später in Belgien Leopoldine Rousseau (1866-1926) und blieb bis etwa zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Belgien. Dann stellte er einen Antrag auf Wiedereinbürgerung und übersiedelte mit den Söhnen, der Tochter und den Schwiegertöchtern in die Heimat, nach Schladern, in die sogenannte Türmchensvilla.
Die unterschiedlichsten Charaktere versammelten sich in der beengten Villa unter einem Dach. Ihre finanzielle Lage hätte ein aufwändigeres Leben zugelassen, doch ihnen war es wichtig unter einem Dach zu leben. Sie alle waren verliebt ins Leben und große Menschenliebhaber. Sie verfügten über eine gehörige Portion Humor und besaßen die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Ohne Dünkel stand ihre Türe weit für Besucher offen.



v. li.: Helga, Tante Martha, Vater Leo, Norbert, Maria, Otto und Klara Bestgen 1943



Nachwuchs im Hause Bestgen, am 2. Mai 1925 kam Norbert zur Welt. Nicht nur die Eltern Klara und Leo, alle Hausbewohner sind verliebt in ihn.



Norbert


Familie Leo Bestgen hat sich vergrößert. Die kesse, fidele Helga ist eine große Bereicherung für ihre temperamentvolle Mutter Klara, den ruhigen Tüftler Leo und den liebevollen Bruder Norbert und für jedermann, der mit ihr in Berührung kam.



Norbert und Vater Leo



Norbert und Mutter Klara



v. li: Walter Bähner, Norbert und Lorenz Hombach

Schulfotos Katholische Grundschule Schladern Anfang der 1930er Jahre



Norberts erster Schultag 1931



1931/32
Lehrer Jakob Schier war direkter Nachbar der Bestgens im Haus Fredebeil. Elisabeth Fredebeil steht in der oberen Reihe, 7. v. re. 1. v. re. ist Beate Becker, verh. Peukert, darunter im Matrosenanzug Norbert Bestgen



1935
2. v. li.: Norbert Bestgen, Elisabeth Fredebeil steht zwei Reihen höher über ihm, Beate Becker (Peukert) ist das große Mädchen mit Zöpfen in der oberen Reihe.
Ich bewunderte ihre Bildung, die Anspruchslosigkeit ihrer Wohnungen und die damit verbundenen, beengten Verhältnisse, die sie selbstverständlich akzeptierten. Leo und Klara fuhren fröhlich mit ihrem kleinen Goggomobil durch die Gegend.
Im Haus wurde französisch gesprochen. Tante Martha lernte aus diesem Grunde nie richtig die deutsche Sprache. Sie und Bruder Otto wohnten im Erdgeschoss. Sie war die „Empfangschefin“, die nach dem Tod von Ottos Ehefrau Maria den Haushalt für ihn führte. Auch als Otto später starb, führte sie den Haushalt weiter wie bei Hofe mit Vorlegegäbelchen, Schälchen etc. Ihre Lebendigkeit und ihr eher zurückgezogenes Leben erfuhren durch die Besucher Abwechslung. Dies führte aber auch zu mancherlei Missverständnissen und lustigen Verwechslungen. So empfing sie den Schornsteinfeger, der sagte: „Tach, Frau Bestgen, ich wollt‘ ens mit dem Federbusch durch den Kamin.“ - „Gute Tach, Ihr wollt mit Eurem Plumeau durch unseren Kamin?“, staunte sie. Wenn ich kam, klatschte sie schnell in die Hände und rief: „Da isse de Freundin von Helga.“ Kam Karl-Heinz Röhrig zum Englisch-Unterricht bei Major Bestgen begrüßte sie ihn: „Da isse de Junge mit de Englisch.“ Eine besondere „Blüte“ gelang ihr, als sie Bruder Leo, ein ausgewiesener Tüftler, die Nachricht von der kaputten Kirchturmuhr überbrachte. „Leo, du musse mal gehen, die Hure auf de Kirchturm ist kaputt.“ Übrigens ging die kleine, flotte Tante Martha nur an der Hand ihrer Schwägerin Klara aus.
Sehr gerne hielt ich mich im Hause auf und denke an die schönen Unterhaltungen, besonders mit Helgas Mutter und Tante Seppi. Die verstorbene Frau von Onkel Otto, Tante Maria, lernte ich bereits mit acht oder neun Jahren kennen. Sie unterhielt eine physiologische Praxis im Hause. Für meine rheumatischen Beschwerden bekam ich Massagen und Heißluft-Behandlungen. Ihre liebenswerte Art war sprichwörtlich. Nach der Behandlung kochte sie mir ein Ei und machte ein Brot dazu, und es gab auch was zu trinken. Wo gibt’s oder gab es das sonst? Sie hat mir auch Löcher für Ohrringe gestochen, die ich zur Kommunion bekam.
An die Wohnung der beiden grenzte ein größerer Hofraum, den Otto für seine Hühnerschar nutze. Daher auch sein Spitzname „Hühner-Bestgen“. Er war verliebt in seine Hühner und parlierte mit ihnen auf Französisch. Dem kleinen Mann dabei zuzusehen, wie er in wechselnden Tonlagen „tok, tok, tok“ und „piep, piep, piep“ lockte, war eine wahre Freude. Die Eier fuhr er mit seinem weißen Fahrrad rund, bei einer solchen Fahrt verunglückte er in den 1960er Jahren tödlich.
Leo, Helgas Vater, war sich selbst genug und sehr besonnen: der ruhige Vertreter, der „Ingenieur“. Allerdings war er beruflich Prokurist in der Verwaltung bei Elmore’s. Hier hätte er wirklich lieber Industrieanlagen auseinandergenommen als Büroarbeiten abgewickelt. Ein Tüftler durch und durch, versuchte er im Betrieb im Overall die Anlagen zu studieren. Das Türmchen-Zimmer war belegt mit seiner großen elektrischen Eisenbahn, unter der Wohnzimmerdecke tuckerte eine Schwebebahn.



Leos Fuhrpark



Leo und Sohn Norbert schweben beim Spiel im Türmchenzimmer im siebten Himmel.


Elmar Walter beschrieb seine kindlichen Eindrücke auf einer Veranstaltung von „Windeck im Wandel“ so: „Es war der Eintritt in eine verzauberte Welt mit verspielten Bewohnern.“ Seiner Frau etwa legte Leo kleine Nachrichten in die Waggons.
Tante Klara platzte vor Temperament und Lebenslust und war kontaktfreudig; damit ergänzten sich Bestgens prächtig. Sie wohnten auf der ersten Etage. Klara liebte es die Speisen abzuschmecken, bis die Töpfe fast leer waren oder Leo erinnerte, dass er auch noch etwas essen wolle. Dass sie dabei immer pummeliger wurde, störte sie nicht im Geringsten. Ihre Kirchenbesuche glichen dem Auftritt einer Königin. Kerzengerade schritt sie durch die Kirche, winkend und nach beiden Seiten grüßend hielt sie bestens aufgelegt Einzug. Leo meinte, sie könne doch in der Kirche nicht winken. Sie bekümmerte es nicht.



Major Herbert Bestgen war ein toller Stratege, der im Palästina-Krieg gekämpft hatte. Als ich ihn kennenlernte, war er Major i. R. und stark behindert. Trotzdem unterrichtete er Fremdsprachen an der Volkshochschule in Köln. Die schöne Frau Major, Tante Seppi, war in erster Ehe mit einem Künstler verheiratet gewesen und in feinen Münchener und Berliner Kreisen hofiert worden, worauf sie großen Wert legte. In der Nachkriegszeit übte sie sich mit Helgas Mutter im Fringsen (Kohlen klauen). Der Zug fuhr so langsam, dass in Dattenfeld ein junger Mann aufspringen konnte. Die Briketts rasselten vom Waggon. In Schladern hatte sich jemand einen Stapel hingelegt. Als Tante Seppi das sah, rief sie: „Schnell, schnell Klärchen, wo sind denn unsere Werfer?“, und war verwundert, als sie merkte, dass sie selbst Brikett auflesen sollte. Bei meinem ersten Besuch im Haus sah ich nur das große Gemälde, das von ihr im Haus hing. Der Major und sie wohnten im Dachgeschoss, wo auch Helga ihr Zimmer hatte, die eine enge Anhänglichkeit zu den beiden entwickelte. Seppi war auch eine exzellente Schneiderin. Als Helga Maikönigin wurde, schneiderte Tante Seppi das Kostüm. Helga wurde damit auf der Wiese postiert, um vom hervorragenden Ergebnis Fotos zu machen.
Helgas Bruder Norbert, Jahrgang 1925, war von Beruf Rechtsanwalt. Der wurde Kreisdirektor und Stellvertreter von Oberkreisdirektor Paul Kieras. Der Jurist und Sozialexperte genoss parteiübergreifend Anerkennung und machte sich insbesondere um das Sozialwesen im Kreis verdient. Mit Ehefrau Lilo zog er 1976 von Siegburg nach Schladern, sie hatten ein Haus am Sonnenhang gebaut.



Norberts Hochzeit mit Lilo am 11. Juni 1953 vor der Villa.



Hochzeitsreise


Nach Ende seiner Amtszeit im Kreishaus, war er als Dozent an der Verwaltungsschule Bonn. Bei einem folgenschweren Verkehrsunfall verlor Lilo ihr Leben. Die Ehe war kinderlos geblieben und das alleine leben war nichts für ihn. Mit Hildegard Lück, geborene Hoffmann, aus Schladern, fand er ein spätes Glück. Sie hatte vier erwachsene Kinder und neun Enkel. Norbert genoss seine Rolle als Ehemann, Stiefvater und Großvater, die ihm bis dahin versagt geblieben war und ihm nun den Lebensabend versüßte. Stolz präsentierte er die Großfamilie, er war wieder glücklich bis zu seinem Tod im August im Jahr 2003. 15 Jahre lang hatte er für die SPD im Windecker Gemeinderat gesessen.
Leider fehlen mir für den wichtigsten Teil, die Freundschaft Thereses mit Helga, Aufzeichnungen. Es folgt nun ein Text ausschließlich aus meinen Notizen von der Veranstaltung im Januar mit Therese und meinem letzten Telefonat mit ihr eigenen Erinnerungen - etwa eine Woche vor ihrem Tod:
Helga war ein besonderer Fall. Mit ihr ging die Sonne auf. Sie war lustig, putzmunter und hat über alles gelacht. Sie konnte zaubern und hatte immer einen Trick dabei. Schon als junge Frau ist sie viel gereist und war als Animateurin unterwegs. Bis ins hohe Alter ging sie auf Reisen, dreimal auf Weltreise.



Helga zaubert für die Kinder ihrer Freundin Margret, für Ralph und Sylvia Schmidt



Im Wohnzimmer von Helgas Freundin Elisabeth Walter. Gilberte und Sylvia wollen auf keinen Fall etwas verpassen von Helgas faszinierenden Geschichten, deren Wahrheitsgehalt sich für Kinder nur schlecht einschätzen ließ.



Elisabeth war auch eine lebenslange Freundin von Helga

Therese erzählte im letzten Januar Anekdoten aus dem gemeinsamen Büroleben, die ich leider nicht protokolliert habe, weil ich nichts von ihren Geschichten verpassen wollte.
Helga war jedenfalls schlagfertig, etwa wenn ein Kollege prophezeite, sie bekäme keinen Mann ab. An Verehrern dürfte in Wahrheit kein Mangel gewesen sein.



Vor 1957 Helga mit Margret Langen (verh. Schmidt) am Zugang zum Bürogebäude von Elmore’s, wo beide arbeiteten und die Herrenwelt um den Verstand brachten.
Nach einem Italienurlaub bekam sie einmal Besuch von einem Italiener, der mehrere Wochen in Schladern bei Bestgens zu Gast war. Jahrzehnte später, da war sie schon Witwe, lernte sie auf einer Weltreise einen Mann kennen, mit dem sie sich während der ganzen Reise auf Französisch unterhielt. Am Ende der Reise wollte man dann doch wissen, woher man komme. Es stellte sich heraus, dass der Reisegefährte in Blankenberg wohnte. Helmut Ronneburg erzählte mir eine Schulgeschichte aus der Zeit bei Lehrer Schier. „Wer kennt denn die Eisheiligen“, richtete der die Frage an die Klasse. Da kannte sich Helga aus: „Die heißen Frau Schopen (damals Malerwerkstatt), Frau Wiese und Frau Dörner (Schuster)“, brillierte sie mit ihrem Wissen.
Ihren Traummann fand Helga schließlich doch in Schladern, wo die Mutter von Eberhard Stöcker wohnte. Er arbeitete in der Gastronomie, hatte perfekte Manieren und bekochte Helga bis zu seinem Tod. Sie arbeitete an der Uni in Bonn, ein schöner Arbeitsplatz, an dem sie mit vielen jungen Leuten zu tun hatte. Nach dem Tod ihres Mannes machte sie noch unzählige große Reisen. Am Ende ihres Lebens ging sie in eine vorzügliche Seniorenresidenz bei Bonn. Therese und sie unterhielten sich dort einmal darüber, wie es nach dem Tod sein sollte. Helga hatte alles geplant, sie wollte eine Seebestattung. Offen war nur noch die Frage: Schwarzer oder bunter Badeanzug? Therese erinnerte ihre Freundin: „Aber Helga, du wirst doch verbrannt!“ Helga lachte schallend: „Ach, das habe ich ganz vergessen. Ich habe mir so schön ausgemalt, wie ich im Badeanzug ins Meer gleite!“
Helga Stöcker, geborene Bestgen, starb am 16. September 2016 in den Armen ihrer Freundin Theresia.



Helga und Eberhard Stöcker heirateten in der Elisabeth-Kirche in Schladern. Im Hintergrund die Mütter, links Klara Bestgen, rechts Frau Stöcker.




Fotos: Dagmar Müller, Gerhard Kasper und Sylvia Schmidt


Steiner Weg 1