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Schladerns älteste Bürgerin erinnert sich

Text | Personen | 12.12.2023

aufgeschrieben von Ulrich Krämer

Es waren turbulente Zeiten, als ich zur Welt kam: Der erste Präsident der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, war am 28. Februar an den Folgen einer Blinddarmentzündung plötzlich verstorben und der 77-jährige Hindenburg wurde am 26. April zu seinem Nachfolger gewählt. Ach ja, ich hab das Jahr vergessen: Es war anno 1925!

Am 10. März 1925 kam ich als Elisabeth Lenz in Hof/ Rosbach zur Welt. Vom Kleinkind Elisabeth gibt`s keine Aufnahmen, heute seh` ich so aus:

Warum erzähle ich das alles? Ein Schladerner Jung, der Kraemers Uli, hat mich besucht im Auftrag von WiWa, weil die meinten, ich könne doch bestimmt was aus meinem langen Leben erzählen, was auch andere Schladerner oder Windecker interessieren könnte. Zurzeit – März 2023 – bin ich die älteste Frau von Schladern. Auch wenn meine Knie mir das Laufen untersagt haben und mein Gehör beim Dialog nach einem ausdrucksvollen Gegenüber verlangt, so haben meine Gehirnzellen nahezu ein Jahrhundert unbeschadet überstanden. Das werdet ihr im Laufe meiner Schilderungen noch merken.

Als Schülerin der Volksschule Rosbach erinnere ich mich an Lehrer Otto Löttgen. Nach der Entlassung nach acht Schuljahren konnte ich ein Pflichtjahr für Mädchen machen. Das war durchaus verlockend. Ich erinnere mich daran, dass Mädchen sich zur Bewachung der Flak-Stellung in Langenberg meldeten. Sie waren im alten Haus Schlösser an der Hauptstraße untergebracht, saßen in ihrer Freizeit vor der Türe und waren von den Dorfjungen umlagert. Ich wechselte nach der Schule zum Kaufhaus Steinhauer in Rosbach als Haushaltshilfe und begann 1940 eine Lehre als Kaufmannsgehilfin.

Steinhauers führten ein Textilkaufhaus. Da früher in jedem Dorf mindestens ein Schneider wohnte, kamen sie aus den Dörfern, um bei uns einzukaufen: Futter, Stoffe, Knöpfe, Einlagen, Garne etc. Aus Schladern kam Schneider Busch, er hatte die Angewohnheit, neben der Arbeitsmaterialien auch für seine Ehefrau etwas mitzunehmen. Einmal ließ er sich von einem Ballen mit blauem Wollstoff ein Stück abschneiden. Doch am nächsten Tag wollte er ihn zurückgeben, weil die Farbe ihr nicht gefallen hatte.

Steinhauers hatten eine taubstumme Tochter, die war Fotografin. In ihr Studio kamen viele Menschen, groß und klein, elegante Damen und Herren. Da man damals ja noch ruhighalten musste beim Fotografieren, unterstütze ich sie, wenn Kinder abgelichtet werden sollten. Mit einer Kuckucksuhr in der Hand und der Aufforderung „Gleich kommt der Kuckuck raus“ hielten die jungen Kunden einige Sekunden still.

Gute Kunden waren auch die Soldaten in ihren Uniformen, da habe ich manchen schnieken Mann gesehen. In meiner freien Zeit konnte ich die Tochter umfassend beim Arbeiten beobachten, am Ende wusste ich, wie man einen Film in der Dunkelkammer entwickelt, wie man Blenden einstellt und Personen in Position setzt.

Mit guten Ratschlägen war ich, wie hier in meinem Poesiealbum zu sehen, für meine Zukunft gut ausgerüstet. Mit vierzehn Jahren wurde ich konfirmiert bei Pastor Hacke. Aus Schladern gesellten sich Wilhelm Klüser und Konrad Walter dazu. In meiner Nachbarschaft wohnten die Familien Wienand und Seligmann. Bei Edith Seligmann war ich oft zu Hause, besonders während des Pessach, da gab es Mazzenbrot, das ich gerne gegessen habe. Als eine Oma der Familie verstarb, zog der Leichenzug mit dem Leichenwagen von Rosbach bis zum Hammer jüdischen Friedhof. Immer noch vor Augen hab ich den Abschied von Edith, als sie in Rosbach in den Zug steigen musste, der sie am Ende in den Tod brachte.

Als der Krieg vorbei war – ich war bis 1946 bei Familie Steinhauer geblieben – mussten wir „hamstern“. Mein Vater hatte noch Sicheln für Sensen. Mit Leiterwagen und einer Sichel setzte ich mich in Rosbach in den Zug, wechselte in Au Richtung Altenkirchen und versuchte bei Bauern mein Glück. Freudig tauschte ich sie gegen einen ganzen Zentner Kartoffeln ein. Französische Besatzungssoldaten machten unterwegs Anstalten, mir die Feldfrüchte wegzunehmen, doch die hatten mich nicht gekannt. Wortreich und energisch verteidigte ich meine Ware und konnte den Zug nach Au unbeschadet erreichen. Da von dort kein Zug mehr fuhr, legte ich den Rest der Reise, den Handwagen mit der kostbaren Fracht hinter mir ziehend zu Fuß zurück.

Als junges Ding hatte ich immer schon Lust auf Bewegung, deshalb schloss ich mich dem Rosbacher Handballverein an. Gespielt wurde auf dem Sportplatz, denn eine Halle gab es nicht. Die Regeln waren ungefähr so wie heute beim Hallenhandball, da aber das Tor viel größer war, betrug der Kreisabstand auch 15 Meter, die Strafwurfentfernung 14 Meter. Zu den Auswärtsspielen z.B. nach Schönenbach oder Waldbröl fuhren wir auf der offenen Ladefläche von Öttershagenem LKW, das war immer eine große Gaudi. Nach den Spielen landeten wir meistens im Haus Heisel, dort konnte man zur Musik einer Kapelle tanzen. Und hier nahm mein Leben die Wendung, die ja kommen musste: 1947 hielt sich dort ein junger Fußballer mit Namen Edmund Becker auf. Geheiratet wurde 1948 und das Handballspielen fand ein Ende – verheiratete Frauen betrieben keinen Mannschaftssport in der Öffentlichkeit. 1950 kauften wir von der Familie Poppel in Schladern ein Grundstück, und in dem Haus, das 1954 bezugsfertig wurde, wohne ich noch heute. Schnell wurde ich in meiner neuen Umgebung heimisch, das sieht man auf dem folgenden Foto aus dem Jahr 1951.

Vordere Reihe von links: Frau Rödder, Frau Welbers, Frau Krämer, Helene Kerper, NN, NN

hintere Reihe von links: Frau Becker, Elisabeth Becker, Frau Schmidt ? NN, NN

Auch durch die Mitgliedschaft im Frauenchor war ich bald in Schladern zu Hause. Der „Schladerner Wind“ hatte mich Rosbacher Mädchen erfasst.

Schöne Erlebnisse verbinde ich mit den vielen Reisen, die ich bis ins hohe Alter gemacht habe. Meine erste ging als Zwölfjährige alleine an die Ostsee. Das kam so: Eine Zeitschrift mit dem Namen „Hilf mit!“ wollte Jungen und Mädchen eine kostenlose Reise an die Ostsee ermöglichen. Unser Lehrer Löttgen fragte in der Klasse, wer daran teilnehmen wolle. Da die meisten zögerten, alleine eine solch weite Reise anzutreten, blieb ich am Ende übrig. Man setzte mich in Rosbach in den Zug nach Köln. Dort traf sich der Sammeltransport „Gau Köln-Aachen“ und wir stiegen um 24 Uhr in den Nachtzug Hamburg-Rostock ein. Die Mädchen blieben eineinhalb Wochen in der Jugendherberge Warnemünde, dann tauschten sie mit den Jungen das Quartier in der Lübecker Bucht. Zur Betreuung der Rasselbande waren Eltern dabei, die auch aufpassten, dass die Dienste in der DHJ (Deutsche Jugendherberge) zuverlässig durchgeführt wurden. Weil bei meiner Rückkehr in Köln kein Zug mehr Richtung Rosbach fuhr, verbrachte ich noch eine Nacht in der DJH Köln. Nach dem Krieg unternahm ich mit meinem Mann Edmund und später auch wegen seiner Erkrankung, ohne ihn viele Reisen. Allein auf Borkum waren wir wegen der Seeluft sechsmal, später schloss ich mich immer einer Reisegruppe an und lernte so Nord- und Südeuropa kennen. In Italien sahen wir den Gardasee, in Rom den Vatikan, die Inseln Capri und Ischia, den Golf von Sorent und Neapel; im Norden durchquerten wir Dänemark, Schweden, Norwegen bis zum Nordkap, auch in Österreich und der Schweiz waren wir zu Gast.

Ich habe in meinem Leben viel Freude, aber auch viel Leid erlebt, besonders der frühe Tod meiner Kinder Ursel und Stefan. 

Elisabeth Becker mit Ursel und Stefan


Bodenbergstraße 32Schladern