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Der Zeitungsbote

Text | Personen | 18.04.1967

Der Zeitungsbote

von Ulrich Krämer

Mit zunehmendem Alter, besonders spürbar als Pensionär, verändert sich der 24-Stunden-Rhythmus. Man geht später zu Bett, weil man einen ausgiebigen Mittagsschlaf gemacht hat und wacht des Nachts öfter auf, sei es, dass sich die Blase bemerkbar macht, sei es, dass man sich mit Problemen herumschlägt, die am Tage zuvor nicht gelöst werden konnten.

So kommt es vor, dass ich, mir scheints mitten in der Nacht, ein Motorgeräusch vor der Haustüre höre, ein vorsichtiges Türenschlagen und dann ein sich entfernendes Auto. Inzwischen weiß ich längst, dass es der treue Zeitungsbote ist, der das druckfrische Exemplar in die Briefröhre schiebt, damitich beim Frühstück nichts vermisse.

Die frühmorgendlichen Geräusche des Zustellers erinnerten mich an einen Nachbarn, der in meiner Kindheit, vor ca. 65 Jahren, in Schladern die Zeitungen brachte: Julius Pracht. Warum fiel er mir ein?

Als ich als Kind auf ihn aufmerksam wurde, litt er in fortgeschrittenem Stadium an Parkinson. Mit seiner großen Umhängetasche voller Tageszeitungen schlürfte er schweren Schrittes durch den Ort, stets mit einem lächelnden Gesichtsausdruck. Sein rechter Arm steckte ein wenig zwischen den Zeitungen, um das Zittern zu unterdrücken, der linke Arm hing schlaff herunter. Stets war er korrekt gekleidet, im Winter dick verpackt. Wenn ihm ein Schladerner begegnete, grüßte er meist mit einem verstärkten Lächeln, selten kam es zu einem Gespräch, denn auch das Sprechen fiel ihm schwer. Nahm er eine Zeitung heraus, so gelang ihm das nur unter großer Mühe, oft halfen ihm seine Abonnenten dabei. Da zu der Zeit die Zusteller auch noch gleichzeitig Kassierer waren, trug er von Zeit zu Zeit eine große Geldbörse bei sich. Anfangs schaffte er es noch, diese zu öffnen, sodass die Leser ihm das abgezählte Geld hineinlegten; Wechselgeld nahmen diese sich dann selbst heraus, weil seine Krankheit seine Feinmotorik zerstört hatte.

Irgendwann konnte man Julius Pracht nicht mehr auf der Straße begegnen. Als Kind habe ich ihn nicht vermisst. Eines Tages begleitete ich meine Mutter auf ihren Wunsch hin ins Nachbarhaus, in dem Julius Pracht mit seiner Frau wohnte. Als wir das Schlafzimmer betraten, lag er freundlich lächelnd in schneeweißen Laken in seinem Bett. Die Krankheit hatte ihn zu einem Pflegefall werden lassen, aufopferungsvoll versorgt von seiner Frau.

 


Elmoresstraße 14