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Die Papa-Wanderungen

Text | Weltkriege, Personen | 01.07.1946

Die Papa-Wanderungen

von Frieder Döring

Wenn unser Papa in den Fünfzigern samstags von seiner Wochenarbeit im Stahlwerk Rheinhausen zurückkam, war immer was los. Meist mussten mein Bruder und ich sofort mit ihm handwerkern, das heißt, wir waren seine Handlanger, während er Sachen am Haus reparierte, die kaputt gegangen waren. Denn er brauchte unsere Hilfe, da er aus dem Krieg ohne den linken Arm und ohne das rechte Auge zurückgekommen war. Oder wir mussten stundenlang rostige Nägel gerade klopfen zur Wiederverwendung, was man heute Recycling nennt. Manchmal aber machte er mit uns auch Wanderungen nach Rosbach oder Waldbröl, wenn er dort Dinge zu besorgen hatte, die er für die Reparaturen dringend brauchte. Das war uns lieber als der Hiwi-Job, bei dem wir dauernd Rüffel oder auch Kopfnüsse einstecken mussten, weil wir wieder was falsch gemacht oder nicht gespurt hatten. Auf den Wanderungen war es einerseits anstrengend und weit, andererseits ganz interessant, weil der Papa uns immer was erzählt hat, vor allem zur Naturkunde und Heimatgeschichte und zu seinem Lieblingsthema Steine, die wir unterwegs fanden und sammelten. In seinen Augen waren das alles Schätze mit seltenen Mineralien und Fossilien, bis sie das in unseren Augen schließlich auch wurden. Ich kann mich heute noch nicht davor zurückhalten, beim Wandern ständig den Boden abzusuchen nach interessanten Steinen, von denen ich auch reichlich finde und mitnehme.

Die Rosbach-Wanderung war zwar sehr viel kürzer, aber dafür um einiges schwerer als die nach Waldbröl. Das lag an den Kriegsfolgen. Die Eisenbahnbrücke zwischen Schladern und Mauel war gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in der Mitte zerbombt worden. Man hatte sie provisorisch repariert, indem man eine Stahlkonstruktion mit einem Gleis über die Lücke gelegt hatte, damit die Eisenerzzüge aus dem Siegerland weiter nach Westen und die Kohlezüge aus dem Ruhrgebiet nach Osten fahren konnten. Zwischen den Schwellen dieses Gleises sah man fünfzehn Meter tief zur strömenden Sieg runter. Fußgängersteige oder Geländer gab es nicht. Aber da es der kürzeste Weg nach Rosbach war, ging unser Papa mit meinem kleinen Bruder und mir, wir waren damals fünf und sieben Jahre alt, regelmäßig über diese Horrorbrücke dahin. Das sollte wohl auch zur Abhärtung dienen, hat aber an meiner Höhenangst nichts geändert. Jedenfalls tippelten wir über die Schwellen, für deren Abstände unsere Schrittlängen gerade reichten, mühevoll hinter dem Papa her und wurden durchgeschüttelt von der Angst vor plötzlich auftauchenden Güterzügen einerseits und der Gefahr vom Abrutschen der Füße und Absturz in die Sieg andererseits. Schwitzend kamen wir dann am Ende der Brücke an. Und dort lauerte die nächste große Gefahr auf uns.

Wir mussten nämlich noch durch den Maueler Tunnel, eine 237 Meter lange Bergunterführung, stockdunkel, mit seitlichen Schutznischen, in die man sich stellen musste, wenn man einen Zug kommen hörte. Und tatsächlich, fast jedes Mal, wenn wir dadurch marschierten, kam der Zug, vor dem wir auf der Brücke Angst gehabt hatten, jetzt durch den Tunnel gerast. Gefühlt sauste er zehn Zentimeter vor unserer Nase vorbei, während wir uns in unserer Nische mit dem Rücken an die Wand pressten. Es kam uns Kindern immer wie eine schicksalhafte Dämonie vor, aber es war natürlich von unserem Papa minutiös geplant. Denn während dieser planmäßige Personenzug Richtung Siegen durchrasselte, konnte uns natürlich kein unangemeldeter Güterzug auf den Brücken erwischen. Und nach dem Tunnel kam ja noch die intakt gebliebene Rosbacher Eisenbahnbrücke, die wenigstens einen Fußgängersteg hatte. Der hatte zwar auch nach unten durchbrochene Laufgitter mit freiem Blick auf die Sieg, aber darüber konnten wir nach den überstandenen Todesgefahren jetzt nur noch lachen! Und danach winkte ja auch schon die Belohnung.

Und das war dann das Ziel für meinen Bruder und mich. Um uns bei seinen Besorgungen aus den Füssen zu haben, parkte unser Papa uns im Gasthof Schlösser an der Rathausstraße. Das alte Fachwerkhaus steht heute noch da, etwas oberhalb der Burg Hof, an der gleichen Seite. Dort bestellte er uns eine heiße Boullion, oder heute Rinderbrühe genannt. Das war damals in allen Landgasthöfen ein Standard-Angebot. Dann ermahnte er uns, brav sitzen zu bleiben, unsere Boullion in Ruhe zu genießen und die Wirtin, deren einzige Gäste wir um die Zeit meist waren, mit Geschichten aus Schladern zu unterhalten, er sei in einer Stunde wieder zurück. Die Wirtin hörte sich unsere Berichte von der Schule, von unseren Abenteuern, aber auch von der Familie oder anderen Dorfbewohnern gerne und mit großem Interesse an, und das nicht nur aus Langeweile. Die Boullion schmeckte uns göttlich, da sie zumeist aus frischen, damals oft heimlichen, verbotenen Selbstschlachtungen stammte und Fleisch und Fleischgeschmack für uns eine Rarität waren. Und so verging die Wartezeit im Gasthof Schlösser für uns angenehm und im Nu.

Der Papa kam in der Regel pünktlich zurück, bezahlte und nahm uns auf den Rückweg mit. Dieser ging zu unserer Erleichterung dann nicht mehr über die Eisenbahn-Trasse, sondern entweder an der Sieg entlang, wenn sie kein Hochwasser hatte, oder über den Maueler Berg oberhalb des Tunnels an der Burg vorbei. Oder, wenn wir viel Zeit hatten, sogar durch Rosbach über Obernau, Lindenpütz, Mauel und unseren Siegbadestrand nach Hause. Damit zeigte er uns indirekt auch, dass der abenteuerliche Hinweg wohl nur der Männer-Ertüchtigung dienen sollte.


Schladern vom Steiner Berg aus mit der Eisenbahnbrücke rechts vor der Sprengung

 


Auf der Teichhardt