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Der Drogist

Text | Personen, Betriebe | 24.12.1952

Der Drogist

von Frieder Döring

Die Drogerie Seidel war eine großartige neue Errungenschaft im Dorf Schladern Anfang der 1950er Jahre. Es gab dort fast alles, was man im ländlichen Haushalt brauchte zum Einwecken, Marmeladekochen, zur Saft- und Obstweinproduktion, zur Schädlingsbekämpfung in Garten und Haus, zur Unkrautvernichtung (wie Unkraut-Ex, womit man auch Bomben basteln konnte), sowie hunderte von pflanzlichen und anorganischen Volksheilmitteln. Darüber hinaus noch Anglerbedarf und Fotografenbedarf, von der Kamera bis zu den beliebten mit Randzacken verzierten Schwarzweißfotos. Der Herr Ernst Seidel, der Drogist, war ein freundlicher, hilfsbereiter junger Mann, ein sehr begabter Fotograf, der Hunderte von schönen selbstgefertigten Schladern-Ansichten als Postkarten anbot und der, was mich am meisten für ihn einnahm, dem „Jugend forscht“-Gedanken, lange bevor dieser zum offiziellen Slogan wurde, sehr fördernd gegenüberstand.

Meine Eltern hatten mir nämlich zum 10. Geburtstag einen Kosmos-Chemiebaukasten geschenkt. Erst einen Anfängerkasten, und nachdem mich die damit machbaren Experimente sehr begeistert hatten, ein Jahr später auch den Fortgeschrittenen-Baukasten. Den hatte ich bald auch ausexperimentiert und begann meine eigenständigen Forschungen mittels des Römpp-Chemie-Lexikons und ähnlichen Büchern, vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert, und mit Hilfe von dem Drogisten Seidel. Dem hatte ich nämlich auf der Suche nach bestimmten seltenen Chemikalien von meinen Experimenten erzählt, was ihn sehr interessiert hatte, und wir trafen daraufhin ein spezielles Abkommen: Er versprach mir, aus dem Großhandel alle für meine Experimente notwendigen Chemikalien zum Selbstkostenpreis zu besorgen, und ich sollte ihm als Gegenleistung vor Beginn des Experimentes den Plan dazu aufschreiben und nach erfolgtem und natürlich erfolgreichen Versuch von der Durchführung und dem Ergebnis berichten. Auf diese Weise erhielt ich von ihm im Laufe von etwa fünf Jahren die unglaublichsten Dinge in größeren Mengen zu sehr kleinen Preisen geliefert.

Dazu gehörten unter anderen: Kalium und Natrium als Reinmetalle, die in Verbindung mit Wasser fantastisch gelb und violett brannten, konzentrierte Salzsäure und Schwefelsäure, rauchende Salpetersäure, Flusssäure, die gefährlichste aller Säuren überhaupt, reiner gelber Phosphor in Stangen, ein Kilogramm reines Quecksilber, jede Menge Aceton, Wasserstoffperoxid, Schwefelpulver, Aktivkohle, 96-prozentigen Alkohol, Kaliumpermanganat, Cyanide, Toluol - alles Dinge, die man heute nicht mal googeln darf, wenn man nicht unmittelbar darauf ein Sondereinsatzkommando der Staatsschutzpolizei vor der Türe haben möchte. Alles bekam ich in Kilo- oder Liter-Größenordnungen zu Preisen, die meist unter oder um eine D-Mark pro Kilo lagen und die ich mir auch deshalb gut leisten konnte, weil ich mir das magere damalige Taschengeld mit diversen Geschäften aufbesserte. Zwar nicht mit den Chemikalien, die gab ich nicht aus der Hand, aber mit bestimmten Kunststücken wie zum Beispiel dem Austrinken eines ganzen Tintenfläschchens, die wir damals zum Füllen des Füllfederhalters brauchten. Das kostete das staunende Publikum zusammen 50 Pfennige, die schnell gesammelt wurden, und machte mir gar nix, weil ich ja als Chemiker wusste, woraus Tinte bestand. Nur am nächsten Tag waren Pipi und Kacke grün, was mich belustigte, aber meine Mutter überhaupt nicht, nachdem ich mal vergessen hatte das Klo abzuziehen. Ich musste eine komplizierte Geschichte erfinden von Nahrungsexperimenten mit Gräsern und brauchte am nächsten Tag nicht in die Schule zu gehen. Mein Dealer, der Drogist Seidel, hat sich köstlich amüsiert über diese Story.

Eine andere schöne und längerfristige Taschengeldaufbesserung erzielte ich mit der Züchtung von Kupfervitriol-Kristallen. Den Rohstoff bezog ich von der Elmores-Müllkippe am Maueler Teich, wo aus der Galvanik des Kupferrohrwerkes Tonnen von verunreinigtem und giftigem Kupfersulfat-Pulver abgekippt wurden, unmittelbar neben der Sieg. Dort holte ich mir große Mengen in Konservendosen und Einmachgläsern, löste das Pulver in Wasser auf bis zur gesättigten Lösung und ließ diese auf alten Porzellantellern im Sommer in der Sonne verdunsten und auskristallisieren. Dadurch entstanden wunderschöne saphirblaue rhombische Kristalle von bis zu acht Zentimeter Länge. Die gingen in der Waldbröler Hollenbergschule vor allem in der Damenwelt als Edelsteine weg wie warme Semmeln, die größten auch für 50 Pfennige das Stück, die Kleineren entsprechend günstiger.

Ab und zu veranstaltete ich auch Chemie-Zauber-Vorführungen, gegen Eintritt von 10 Pfennigen pro Zuschauer versteht sich, bei denen es vor allem knallte, zischte, dampfte und stank. An ein Experiment erinnere ich mich noch gut, weil es immer sehr beklatscht wurde. Dabei füllte ich ein Reagenzglas in Übergröße zunächst halb mit konzentrierter Schwefelsäure, darauf schichtete ich ganz vorsichtig 96-prozentigen Alkohol, sodass die beiden Flüssigkeiten sich nicht vermischten. Dann ließ ich mit der Pinzette einige Kaliumpermanganat-Kristalle in das schräggestellte Glas rutschen, so dass sie auf der öligen unteren Schwefelsäure schwammen. Alsdann wurde das Licht ausgemacht und das Reagenzglas ganz leicht überm Bunsenbrenner erhitzt. Jetzt begann in dem Glas, das ich dem Publikum vor die Nasen hielt, eine Kettenreaktion von einem Feuerwerk. Alle die Kaliumpermanganat-Kristalle explodierten mit grünblauen Funken in der Zwischenschicht zwischen Schwefelsäure und Alkohol, scheinbar unter Wasser. Und das sah wirklich zauberhaft aus, rief Begeisterung hervor und musste meist mehrfach wiederholt werden.

Solche Geschichten begeisterten auch den Drogisten Seidel. Er wiederholte manche Experimente im eigenen Labor und war dann immer gerne bereit, mir neue Chemikalien zu besorgen. Natürlich wurde ich immer besser dabei und es gelang mir nach einiger Zeit sogar, Nitroglyzerin herzustellen oder Zyankali, womit ich ein paar Ratten erledigte. Ich baute Raketen, die ich von meinem Zimmerfenster in den Hof von der Gaststätte Peter Müller abschoss, die Fensterbrüstung hat heute noch tiefe Narben davon, und ging mit meinen Freunden in Steinbrüche, um Sprengungen zu machen (s. „Die Mineure“). Von all diesen gelungenen Experimenten erzählte ich meinem Drogisten und er fand alles bewundernswert. Aber ich erzählte ihm natürlich nicht von den Sachen, die hie und da auch danebengingen.

Ich hatte in meinem Zimmer unterm Dach einen Sekretärschrank, in dem ich meine Chemikalien verstaute und auf dessen Klappe ich die Experimente machte. Darunter stand ein Eimer, in den ich die Abfallprodukte der Versuche hineinschüttete in der meist richtigen Chemiker-Erfahrung, dass sich die vielen Verbindungen bei der Mischung gegenseitig neutralisierten. Einmal war ich den ganzen Nachmittag und Abend mit hochinteressanten Versuchsanordnungen beschäftigt, als mich die Mutter von unten zum Abendessen rief. Es gehörte zu ihren Prinzipien, dass immer pünktlich um 19 Uhr gegessen wurde, und dass alle Hausbewohner auch pünktlich zu erscheinen hatten. Ich rief zurück: Ich komme gleich, muss nur noch den einen Versuch zu Ende bringen! Nach fünf Minuten rief sie mich wieder und bekam die gleiche Antwort zurück. Nach weiteren fünf Minuten war ihre Geduld am Ende und sie stapfte wütend die Treppe hoch. Das hörte ich und wusste, jetzt wurde es brenzlig. Gleichzeitig war mein Versuch abgelaufen, und ich konnte erleichtert Schluss machen. Rasch schüttete ich alle Reste in den Abfalleimer. In dem Moment öffnete die Mutter zornig die Zimmertüre und prallte entsetzt zurück, denn im selben Augenblick explodierte mein Abfalleimer, spritze den Inhalt durch den Raum und entfaltete dunkle, stinkende Rauchwolken im Dachgeschoss. Da wusste ich, dass jede Regel auch eine Ausnahme hat.

Ein anderes Mal hatte ich Chlorgas hergestellt durch Elektrolyse von Salzwasser. Das geht recht einfach mit Transformator, Gleichrichter und zwei Elektroden, die in ein Gefäß mit Salzwasser getaucht werden und die das gelöste Salz in Natrium und Chlor zerlegen. Das Natrium verbindet sich mit dem Wasser zu Natrium Hydroxid und bleibt gelöst. Das Chlor steigt als Gas aus dem Wasser auf, und da es schwerer ist als Luft, schichtet es sich zunächst über dem Wasser auf, bis es über den Rand des Gefäßes wabert, zum Fußboden des Raumes absinkt und dort, diesen langsam bedeckend, wieder ansteigt. Dieser vorhersehbare Vorgang, war mir entgangen, weil ich, während die Elektrolyse lief, ein anderes sehr wichtiges und spannendes Experiment daneben begonnen hatte. So waberte das hochgiftige Chlorgas aus dem Gefäß immer weiter in den Raum und füllte ihn vom Boden her langsam auf. Als ich das andere Experiment schließlich beendet hatte und aufräumen wollte, stellte ich fest, dass ich bis zur Bauchhöhe in dem gelblichen Nebel von Chlorgas stand. Da wurde mir etwas mulmig zumute. Schnell schaltete ich den Strom ab, riss das Fenster auf, stellte meinen Abwasch auf ein Tablett, um ihn ins nahe Badezimmer zu bringen, öffnete die Zimmertüre und fiel samt Tablett voller Reagenzgläser in den Vorflur auf die Nase. Ich hatte wohl auch über dem sichtbaren Gas schon einiges eingeatmet und war ohnmächtig geworden.

Ich muss einige Minuten dagelegen haben, als ich aufwachte und bemerkte, dass das Chlorgas abgezogen war, der Schwerkraft nach die Treppe runter. Zum Glück war ich allein im Haus. Mir war speiübel, ich hatte Kopfschmerzen und Sehstörungen, aber ich musste mich beeilen, um die Spuren dieses Desasters zu beseitigen, bevor die Mutter wieder heimkam, was auch gelang. Sie hat erst Jahre später was davon erfahren. Nicht zu verheimlichen war dagegen eine andere Geschichte: Ich wollte mir nämlich Silbernitrat herstellen, um damit Fotopapier für die selbst gebaute Lochkamera zu produzieren. Salpetersäure hatte ich, es fehlte Silber. Da erinnerte ich mich an die Münzsammlung meines Vaters, die er zwar gut verschlossen im Schrank hatte, aber neben der er in der offenen Schreibtischschublade auch noch ein Kästchen mit doppelten Tauschmünzen bereithielt für Besucher. Daraus stibitzte ich mir eine kleine Silbermünze. Die warf ich dann in ein Reagenzglas mit rauchender Salpetersäure. Nix passierte, also erhitzte ich das Glas überm Bunsenbrenner. Es passierte immer noch nix. Dann verkorkte ich das Glas und erhitzte es erneut. Jetzt stiegen Bläschen auf. Das fand ich gut und erhitzte weiter. Da gab‘s einen Knall, der Korken flog weg und der Inhalt des Glases ebenfalls und zwar teilweise über mein Gesicht, mein Hemd und meine nackten Arme. Schnellstens rannte ich ins Bad, spülte alles ab, schmiss das durchlöcherte Hemd in den Müll und dachte, dass ich damit alles im Griff hätte.

Die böse Überraschung kam am nächsten Morgen. Als ich am Frühstücktisch erschien schrien die Mutter und die Geschwister bei meinem Anblick entsetzt auf. Ich rannte zum Spiegel und war am Boden zerstört: Mein Gesicht und meine Arme waren gesprenkelt mit schwarzen Flecken, es sah aus, als hätte ich die Pest. Als Chemiker wusste ich auch gleich, was los war: Ich hatte tatsächlich Silbernitrat erzeugt, das als heiße Lösung sich in meine Haut eingebrannt hatte und inzwischen durch Lichtkontakt oxidiert und schwarz geworden war, wie auf den früheren Fotopapieren. Diese schwarzen Flecken musste ich nun sechs Wochen mit mir rumtragen bis die Haut sich erneuert hatte, und nachdem ich meine Schandtat gebeichtet hatte, war die Mutter so weise, dass sie mich konsequent weiter zur Schule schickte, wo ich allen Mitschülern und Lehrern ebenfalls meine Sünden beichten musste. Zu meinem Chemikerfreund, dem Drogisten Seidel, traute ich mich bis zum Verschwinden der Flecke nicht mehr hin, da ich mich furchtbar schämte. Nicht so sehr wegen dem Münzdiebstahl als wegen des unverzeihlichen Verfahrensfehlers, ein zugekorktes Reagenzglas zu erhitzen! Wer macht denn so was?

Dr. Frieder Döring liest aus seinem Aufsatz über der Drogisten Ernst Seidel (Drogerie Seidel, Schladern)

 


Waldbröler Straße 13