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Die Prophezeiung

Text | Dorfgeschichten, Personen | 01.07.1950

Die Prophezeiung

von Frieder Döring

Mein Bruder Jochen war und ist zwei Jahre jünger als ich und wir waren eigentlich eine verschworene Gemeinschaft. Denn wir hatten ja einen gemeinsamen Feind, als wir klein waren: unsere beiden großen Schwestern! Inge, drei Jahre älter als ich, und Anne Maja, schon sechs Jahre älter. Besonders die Letztere spielte sich gerne als Über-Mama auf, und beide wollten uns wilde Nachkriegs-Jungs unbedingt erziehen. Das schweißte uns zusammen. Außerdem schliefen wir einige Jahre im gleichen Dachzimmer und hatten uns zur Gewohnheit gemacht, nach dem Gute-Nacht-Kuss der Mutter kurz abzuwarten, bis sie die Treppe runter war, und dann fleißig die Betten umzubauen, die wir in Piratenschiffe verwandelten, um darauf und da drinnen mindestens noch ein, zwei Stunden heftige Piratenkämpfe und Seeabenteuer zu zelebrieren bis wir vor Müdigkeit umsanken.
Auch draußen waren wir bis zur Pubertät unzertrennlich zusammen und meist mit der Oberdorfbande unterwegs.

Es gab allerdings auch schon mal Ausnahmen von dieser brüderlichen Harmonie. Besonders, wenn der kleine Bruder beim Spielen gegen mich verlor, konnte er ziemlich giftig werden und manchmal auch ausrasten. Oder wenn er sich gelegentlich kategorisch weigerte, meine Autorität als älterer Bruder anzuerkennen und ich ihn dann selbstverständlich zurechtweisen musste, wurde er pampig und schlug zurück, was ich wiederum nicht auf sich beruhen lassen konnte. So entwickelten sich gelegentlich kleinere Prügeleien zwischen uns, natürlich nur, wenn keine Erwachsenen in der Nähe waren, die sofort eingegriffen hätten mit so blöden Argumenten wie, dass man als Älterer doch den Jüngeren, oder als Größerer nicht den Kleineren, oder als Stärkerer nicht den Schwächeren verhauen dürfe. Das war in unserem Fall alles Quatsch, weil ich zwar etwas größer und wohl auch stärker war als er, aber dafür war er sehr viel schneller und um ein Vielfaches gemeiner als ich. Er hatte dutzende hinterhältige Methoden drauf, um mich reinzulegen, und wandte die auch hemmungslos an. Irgendwann hat er mir in seiner Not sogar einen Stein an den Kopf geschmissen.

Einmal hatten wir, wie öfter, nur so ein Spaß-Kämpfchen angefangen, bei dem er mich wieder mal mit fiesen Tricks, wie „Häkchen“ mit den Füßen machen, Ellenbogen in die Rippen reiben, Kneifen und ähnlichen unfairen Methoden fast zu Fall gebracht hatte. Da musste ich dann, um meine Autorität zu bewahren, selbst energischer werden und ihn solange und so fest im „Schwitzkasten“ packen, bis er um Gnade winselte. Ich ließ ihn lachend frei und meinte, das würde ihm wohl eine Lehre sein und den Respekt vor dem großen Bruder wiederherstellen. Da meinte er fast heulend vor Wut: „Ich hasse dich! Das kriegst du wieder! Warte nur bis ich mal 80 bin, dann bist du nämlich schon 82! Und dann bist du bereits so altersschwach, dass ich dich locker besiegen kann!“ Und ich antwortete: „Das werden wir ja mal sehen! Ich nehme deine Duellforderung an. An deinem 80. Geburtstag machen wir unsere letzte und endgültige Prügelei. Wer dann der Sieger ist, ist auch der Chef!“

Jetzt bin ich 75 Jahre alt und nähere mich langsam diesem ominösen Stichtag. Und wenn ich an die Prophezeiung meines Bruders denke, und das tu ich immer häufiger, wird mir ganz komisch. Er ist jetzt schon deutlich fitter als ich. Aber ich habe ja noch ein bisschen Zeit. Im Sommer fang ich mit dem Konditionstraining garantiert an!

 


Falkenweg 3