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Spiele

Text | Dorfgeschichten, Schulen | 01.07.1946

Spiele

von Frieder Döring

Computerspiele brauchten wir nicht. Wir machten alle Spiele in eigener Regie und bei fast jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit draußen. Natürlich auch die großen Gruppenspiele wie Fußball, seltener Handball, dafür mehr Völkerball, Räuber und Gendarm, Ritterspiele, Piratenschlachten an, in und auf der Sieg und im Krummauel. Dann die Pausenspiele wie Nachlaufen, Verstecken, das Tabakrollenspiel (s. Drei mal Null ist Null ist Null) und einige mehr. Aber es gab auch die intimeren Spiele mit Freundinnen und Freunden in kleinen Gruppen von zwei bis fünf Kindern. Die Mädchen liebten sehr das Himmel und Hölle-Hüpfspiel auf der Straße. Da machten wir Jungs auch oft mit, als wir noch kleiner waren. Ab etwa zehn Jahren waren wir erhaben über so ‘n Mädchenkram. Dagegen waren Mädchen und Jungs in gleicher Weise beteiligt beim Murmelspiel, das auf einer ebenen und nicht asphaltierten Erdbodenfläche gespielt wurde.

Dabei musste der Boden erst schön geglättet und festgetreten werden. Dann wurde eine handtellergroße Kuhle ausgekratzt und im Abstand von ein bis zwei Metern davon weg ein Strich gezogen. Dann wurde die Art und Anzahl der Murmeln festgelegt, mit denen zu spielen war. Es gab nämlich zwei Arten von Murmeln: die billigen Tonkügelchen und die teuren, größeren und sehr begehrten bunt schillernden Glaskugeln. Jeder von uns besaß natürlich Murmeln, aber unterschiedlich viele, und nicht viele besaßen mehr als drei der wertvollen Glasklicker, wie sie auch hießen. Deshalb musste für jedes Spiel erst mal die Anzahl festgelegt werden und wann, wenn überhaupt, die Glaskungeln auch mit eingesetzt werden durften. Nun ging‘s ans Abzählen mit den unendlich vielen Abzählreimen. Wenn wir wenig Zeit hatten und/oder viele Teilnehmer waren, wurden die kurzen Reime genommen, wie:

„Ene meine Muh, und raus bist du!“.
Bei weniger Leuten und mehr Zeit die langen wie:
„Ene meine miste, was rappelt in der Kiste,
ene mene meck, und du bist weg!“

oder

„Ein zwei drei, Butter mit Brei,
Salz mit Speck, und du bist weg!“

oder ganz lange wie:

„Angsthase, Pfeffernase, morgen kommt der Osterhase,
zieht dir deine Hose aus, übermorgen Nikolaus,
zieht sie wieder an, und du bist dran!“.

Ihr kennt alle sicher noch viel mehr davon, denn sie sind zum Teil auch heute noch üblich in Schulen und Kindergärten.

Nachdem so die Reihenfolge der Spieler ermittelt war, trat der erste an den Strich und versuchte einen seiner Klicker in die kleine Auffangkuhle zu schibbeln, was sehr schwer war, da der Boden trotz aller Glättungsarbeit nie richtig eben wurde. Wer eine Murmel in die Kuhle platzieren konnte, hatte am Ende eines Durchgangs gewonnen und durfte alle übrigen um die Kuhle herumliegenden Murmeln als Gewinn kassieren. Wenn mehrere ihre Murmeln in die Kuhle brachten, gab es Ausscheidungskämpfe. Dramatisch wurden die Auseinandersetzungen, wenn Glasklicker mit im Spiel waren, und einer am Ende auch diese mit abräumte. Dann konnte es auch zu Tränen kommen oder zu lautstarken bis gewalttätigen Streits über angebliche Regelverletzungen und Pfuschen, die gelegentlich auch mal in eine Prügelei eskalierten. Meist aber wurden die Streithähne oder -hühner dadurch beschwichtigt, dass alle „Rewangsch“ (Revanche) riefen und ein neues Spiel neues Glück bedeutete.

Eine von den Erwachsenen strikt verbotene Variante des Murmelspiels war das „Pfennigwerfen“. Dabei stellte man sich zwei bis drei Meter von einer Mauer entfernt auf und warf von einem Strich aus Pfennige (die Jugendlichen machten das auch mit Groschen) gegen oder knapp an die Mauer heran. Am Schluss jeder Runde sammelte der alle Münzen für sich ein, der seinen Pfennig am nächsten an der Mauer platziert hatte. Eine weitere gefährliche und natürlich bei Höchststrafe absolut verbotene Variante, war das „Münzenprägen“ an der Bahn.

Der Fuß- und Fahrradweg von Schladern an der Bahn entlang zum Einschnitt (Porta Rhenania) Richtung Altwindeck ist auch heute noch nur durch zwei lockere Drähte vom Bahndamm und den viel befahrenen Schienen abgetrennt. Für uns Kinder nie ein Hindernis, sondern im Gegenteil ein Anreiz. Dahin zog es uns manchmal, wenn wir ein paar Pfennige oder gar Groschen in der Tasche hatten. Jeder legte jetzt eine seiner Münzen auf die nackte Schiene eines Gleises in der Richtung, in der wir den nächsten Zug erwarteten, deren Ankunfts- und Abfahrtszeiten wir natürlich alle kannten. Dann traten wir auf den Bahnweg zurück und warteten ab. Der Zug Richtung Köln stand meist schon weit sichtbar und hörbar mit seiner schwarzen Dampflok im Bahnhof Schladern. Mit einem gellenden Pfiff fuhr er los, und wir starrten ihm gespannt entgegen. Wenn er an uns vorüber war, rannten wir wieder an das Gleis und suchten unsere Münzen. Die eine oder andere war durch die Vibration abgesprungen, aber mehrere waren schön geprägt worden, wie wir das nannten: sie waren von den Lokomotiv-Rädern auf doppelte Größe und halbe Dicke ausgewalzt worden. Und wessen Münze am größten und schönsten war, der durfte wieder die übrigen kassieren, die dann später als Spielgeld unter anderem beim Skatspiel verwendet wurden. Doch das ist wieder eine andere Geschichte.

Eine etwas wildere und ebenfalls nicht ungefährliche Spielart waren die Reiterkämpfe. Dabei nahm jeweils ein starker großer Junge einen kleineren oder auch ein Mädchen im Reitersitz auf die Schultern und zwei oder mehrere solcher Reiterpaare hatten nun gegeneinander zu kämpfen, indem die Reiter versuchen mussten, sich von da oben runter zu schubsen und die Pferde sich in die Beine traten oder hakelten, um sich zu Fall zu bringen. Wie man sich denken kann, gab´s heftige Stürze dabei, oft von zwei oder mehreren Reiterpaaren, und natürlich allerhand Prellungen, blaue Flecken oder Schürfwunden. Das interessierte uns weniger. Aufgepasst haben wir dagegen, dass die Klamotten möglichst ganz blieben, denn das gab zu Hause mehr Ärger als nur ein paar Wunden.

Ein wunderschönes und natürlich auch nicht ungefährliches Spiel war das Schleudern der „Feuertöpfe“. Dabei wurden alte Konservendosen mittels Hammer und Nagel mit Löchern versehen, oben am Rand, an den Seiten und am Boden. Dann wurde die Dose an einer langen Draht- oder Kordelschlaufe befestigt, mit trockenem Heu und/oder Stroh gefüllt und dieses schließlich angezündet. Das geschah vorwiegend in der Abenddämmerung oder, als wir älter waren, in kompletter Dunkelheit nach dem Abendessen. Da sah es nämlich am schönsten aus. Denn nach dem Entzünden wurden die so präparierten Büchsen von mehreren Kindern so kräftig wie möglich kreisförmig am Arm durch die Luft geschleudert. Der dabei entstehende Wind feuerte die Glut in den Büchsen an und blies die Funken wie bei einem Feuerrad durch die Löcher ins Freie, sodass wir eine oder mehrere Funkenkoronen um uns herum leuchten hatten. Ein fast komplettes Feuerwerk! Das musste natürlich alles abseits von Häusern und Erwachsenen heimlich geschehen, denn die hätten uns beim Erwischen gnadenlos vertrimmt. Tatsächlich interessierte uns damals kaum, wohin unsere Funken flogen. Und Brennbares gab‘s im Dorf, am Waldrand und auch auf den Weiden meist genug!

Eine ganz andere Art von Spielen war das „Streichespielen“. Das häufigste und bei Mädchen und Jungen gleichermaßen beliebteste dieser Art war das „Klingelmännchen“: also zu einer Haustür schleichen, auf die Klingel drücken, weglaufen und aus sicherem Versteck zugucken, wie der Hausherr oder die Hausfrau herauskamen und sich nach dem vermuteten Besucher umguckten. Wenn sie erkannt hatten, dass es nur das Klingelmännchen war, drohten sie meist mit der Faust und riefen Verwünschungen oder Flüche in die Gegend, von denen wir oft noch was lernen konnten. Das war uns aber ab acht bis zehn Jahren zu simpel und abgedroschen, da musste mehr Spannung rein. Und das machten wir so: Wir suchten uns einen großen, frischen Hundehaufen (zur Not tat es auch Kuhscheiße) und platzierten ihn auf die Haustürschwelle des Opfers. Dann wurde zerknülltes Zeitungspapier drübergelegt, der Klingelknopf gedrückt, das Papier angezündet und weggerannt ins Versteck. Der Hausherr, die Hausfrau öffneten die Türe, sahen das Feuer und trampelten es instinktiv sofort mit beiden Füßen aus. Dann merkten sie erst verwirrt, in was sie reingetrampelt hatten und konnten noch von Glück sagen, wenn sie Schuhe anhatten, was damals im Sommer nicht selbstverständlich war. Das Geschrei war jedenfalls groß, und da sie, wie die meisten im Dorf, auch ahnten, wer dafür verantwortlich war, mussten wir diese Häuser erst eine Zeitlang meiden, bis Gras drüber gewachsen war.

Eine, trotz des Namens, eher nette Streichspiel-Variante war die „Teufelsgeige“. Dabei besorgten wir uns einen feinen Bindedraht und befestigten den an Haken oder Krampen bei Dämmerung heimlich am Fensterkreuz eines Küchenfensters, das andere Ende banden wir unter Spannung am nahen Zaun oder einem Pfahl stramm fest. Mit einem Holzknebel wurde diese „Geigenseite“ dann noch bis fast zum Reißen gespannt. Schließlich „lieh“ ich mir von der Mutter den Geigenbogen (später benutzte ich den eigenen), und wenn es inzwischen schön dunkel war, spielten wir damit schaurige Töne auf unserer Teufelsgeige. Durch die Resonanz der Holzfenster und dünnen Glasscheiben wurden diese geisterhaften Töne verstärkt und durchs ganze Haus geleitet, ohne dass die Bewohner die Herkunft ahnen konnten. Deshalb suchten sie, nachdem sie sich vom ersten Schrecken oder regelrechter Angst erholt hatten, meist lange im Innern des Hauses nach der Ursache, sodass wir Zeit hatten, unser Teufelsinstrument wieder abzubauen und davonzulaufen.

 


Falkenweg 3