Skip to main content

Dreimal Null ist Null, ist Null

Text | Schulen | 01.07.1953

Dreimal Null ist Null, ist Null

von Frieder Döring

Die Kindheit in Schladern war schön in der Nachkriegszeit und ganz besonders schön war die Grundschulzeit, damals Volksschulzeit genannt, beim Lehrer Hoppe in der alten Gründerzeitschule, in der heute der Kindergarten Sausewind beheimatet ist und damals die Evangelische Volksschule Schladern hieß. Eine Katholische Volksschule gleichen Aussehens stand direkt daneben und war durch einen hohen Zaun dazwischen abgegrenzt. Wir hatten zwar einen Mangel an Nahrungsmitteln, Kleidung und auch Lehrmitteln damals, aber das wurde dreimal ausgeglichen durch den Spaß, den wir innerhalb und außerhalb der Schule hatten und durch die größeren Freiheiten, die den Kindern damals zugestanden wurden. Alle meine Altersgenossen, die ich dazu in den letzten Jahren befragt habe, waren sich einig darüber, dass wir es in vielfacher Weise schöner und besser hatten als die heutigen Kinder, die sich des Verlustes aber gottseidank nicht bewusst sind. Der Unterschied zwischen heute und damals hatte seine besonderen Gründe, die auch nicht so leicht wiederhergestellt werden könnten.

Dazu gehörte gerade die Knappheit aller Lebensmittel im weitesten Sinne und die Tatsache, dass die Eltern voll damit ausgelastet waren, sie heranzuschaffen und deshalb froh, wenn die Kinder sich selbst beschäftigten. Dazu gehörte auch die große Kinderzahl im Dorf und in den Familien. Einzelkinder waren eine Seltenheit. Wir waren immer in Horden oder Gruppen unterwegs, und die größeren Kinder wurden verdonnert, sich um die kleineren zu kümmern, und waren für sie verantwortlich. Ja, wir lernten so wichtige Dinge wie Fahrradfahren und Schwimmen (und wir Jungens auch das Rauchen) nur von den älteren Kindern.

Und dann gab‘s da noch einen ganz wesentlichen Unterschied: Im Gegensatz zu heute hatten damals alle Erwachsenen des Dorfes die gleiche Erziehungsberechtigung wie die Eltern. Und da sich ständig arbeitende Menschen im Freien aufhielten, in den Gärten, auf den Feldern, Wiesen, Weiden, ja sogar im Wald, waren wir fast immer unter Kontrolle von Dorfbewohnern, die darauf achteten, dass wir keinen zu großen Unsinn machten, vor allem keine Beschädigungen von Materialien. Und wenn doch was richtig Schlimmes passierte, dann hatten sie alle das Recht, uns körperlich zu bestrafen (s. Die Feuerteufel). Das war den Eltern nur lieb. Dafür konnten wir aber auch in jedes Haus im Dorf rein marschieren und sagen, wir hätten Hunger oder Durst, dann bekamen wir immer einen Kanten Brot und ein Glas Milch. Der Lehrer Hoppe, der ein eher ruhiger und kinderfreundlicher Mann war, wurde von den Eltern oft ermahnt, nur ja streng mit ihrer Nachkommenschaft umzugehen und seine Haselruten kräftig zu gebrauchen. Das tat er zwar selten, drohte es aber häufig an, und wenn wir ihn wirklich zur Weißglut gebracht hatten, explodierte er auch schon mal und zerschlug dann wahllos alles, was er in der Hand hatte, auf unseren Köpfen. Meist war das sein Geigenbogen, denn er musizierte gerne mit uns.

Heute kaum mehr vorstellbar ist ja, dass alle acht Volksschulklassen damals in einem Raum unterrichtet wurden. In den ersten beiden Pultreihen rechts saßen die Erstklässler, genannt die I-Dötzchen, in den zweiten beiden Reihen die Zweitklässler und so weiter bis zu den Achtklässlern, den Vierzehnjährigen, die, ob sie die achte Klasse erreicht hatten oder nicht, dann die Schule verließen, um eine Lehrstelle anzunehmen. Und Lehrstellen gab es nach der Währungsreform 1948 genug, denn das Wirtschaftswunder begann. Insgesamt hatte Lehrer Hoppe so zwischen vierzig und sechzig Kinder gleichzeitig zu unterrichten. Die Kunst des Lehrers bestand darin, dass er sich mit jeweils einer oder zwei Klassen intensiver beschäftigte in dem jeweiligen Fach, während er den übrigen Klassen Aufgaben in ihren Fächern zu lösen gab. Manche Fächer waren dann auch für alle gemeinsam: wie Musik und Sport und Heimatkunde. Zu letzterem Fach veranstaltete er fast jede Woche einmal, wenn es das Wetter eben zuließ, einen Wandervormittag mit der ganzen Schule.

Der war sehr beliebt, erstens weil wir alle lieber draußen als drinnen waren, und zweitens weil Lehrer Hoppe uns sehr viele Dinge auf dem Wanderweg erzählte, die uns mehr interessierten als Rechnen, Lesen, Schönschreiben: über die Heimatgeschichte, über Pflanzen und Tiere, über Steine und Geologie und auch über die Menschen und ihre Eigenarten in unserer Region. Davon profitiere ich heute noch sehr. Gleichzeitig lernten wir alle Wanderwege der Umgebung kennen, von denen viele inzwischen zugewachsen, verschüttet oder sogar absichtsvoll beseitigt worden sind, obwohl sie zum Teil über ein Jahrtausend alt waren (wie zum Beispiel der Eselsweg, der vom Haus Schladern zur Vorburg Windeck führte). Biologieunterricht erteilte er vom Frühjahr bis Herbst im eigenen Garten, indem wir ihm halfen, Kartoffeln und Gemüse anzubauen. Das hielten die Eltern aus eigenem Interesse auch für sehr wichtig.

In den Unterrichtspausen konnten wir auf dem Schulhof rumtoben und spielen, was wir wollten. Völkerball war sehr beliebt, oder auch das Tabaksrollenspiel. Dabei fasten sich alle Kinder an den Händen, die Großen zuerst, die Kleineren hinten dran, und Jungen und Mädchen meist im Wechsel. Dann stellte sich der Erste und Größte der Reihe an den dicken Kastanienbaum auf dem Hof. Und unter Absingen der Litanei: „Wir, wir wollen Tabak rollen. Wir, wir wollen Tabak rollen….“, drehte sich der ganz Lindwurm der aneinander gereihten Kinder in einer Richtung immer weiter um den Baum und die dabei schon Angedrückten, sodass bei etwa sechzig Kindern ein ganz beachtlicher Druck entstand. Der war einerseits atemberaubend, andererseits aber auch sehr reizvoll, weil Mädchen und Jungs dabei so aufeinandergedrückt wurden, wie das in der übrigen Dorföffentlichkeit sonst unstatthaft war.

Eine weitere reizvolle Beschäftigung war es, Kontakt aufzunehmen zu den Kindern der Katholischen Volksschule nebenan. Das war verrückterweise während der Schulzeit verboten, obwohl wir nach der Schule viele gemeinsame Unternehmungen und Abenteuer miteinander hatten. Das Verbot machte die Sache erst richtig interessant. Natürlich prügelten wir Jungs uns auf dem Schulhof auch kräftig. Wir hatten ja die Mädchen als Zuschauer, was die Sache besonders spannend machte. Lehrer Hoppe stand dabei gewöhnlich auf der Schultreppe und schaute sich die Prügeleien solange gelassen an, wie alles fair und in normalen Bahnen verlief. Unfaire Handlungen, wie Spucken, Treten, Zwei gegen Einen, Größere gegen Kleinere oder auch Beschädigung von Klamotten duldete er nicht. Er war damals der Ansicht, dass das Üben der Kinder im Umgang mit Gewalt und das persönliche Erfahren von Grenzen zu den Erziehungsaufgaben der Schule dazu gehöre. Und ich bin heute noch seiner Meinung.

Zu Beginn der vierten Klasse hatte Lehrer Hoppe die Kinder vorsortiert, die er für geeignet hielt, aufs Gymnasium zu gehen. Das besprach er dann mit deren Eltern, und wenn sie auch einverstanden waren, gab er diesen Kandidaten freiwillig und kostenlos nachmittäglichen Zusatzunterricht, um sie für die Aufnahmeprüfung am Gymnasium vorzubereiten. Denn es war sein Stolz, dass seine Schüler, die er dazu vorgeschlagen hatte, auch alle die Aufnahmeprüfung bestanden. Bei meiner Prüfung, die eine ganze Woche lang jeden Vormittag im alten Hollenberg-Gymnasium in Waldbröl stattfand, das jetzt Rathaus ist, war es Winter, und zwar ein heftiger. An dem Wochenende hatte es so gewaltig geschneit, dass der gesamte Verkehr lahmgelegt wurde, also am Montag auch keine Busse nach Waldbröl fuhren und die Schulen geschlossen hatten. Stattdessen fuhren wir Kinder mit großer Begeisterung auf den Schneeräum-Schlitten hintendrauf mit, die die Landwirte des Ortes, unter anderen auch Adalberts Vater, Wilhelm Schneider, mit ihren Treckern durch die Straßen zogen, damit wenigstens die Fußgänger durchkamen. Die Prüfung wurde zu meinem Leidwesen nachgeholt.

 


Falkenweg 14