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Fringsen

Text | Dorfgeschichten, Weltkriege | 31.12.1946

Fringsen

von Frieder Döring

Der Kölner Kardinal Joseph Frings (1887-1978) war bei den Kölnern sehr populär. Unsterblich hat er sich gemacht, als er 1946 in einer Sylvesterpredigt den Mundraub und speziell den Kohlenklau von Güterzügen in jenen Notzeiten, in denen es wie in strengen Wintern kaum andere Überlebensmöglichkeiten gab, für sündenfrei erklärte. So wurden also die hässlichen Worte Klauen und Rauben durch Fringsen ersetzt, was auch die Skrupel darüber erleichterte, dass man dabei notwendigerweise uns Kinder mithelfen ließ, die wir somit zu offiziellen Fringsern wurden. Das erhob uns fast in den Stand von Helden in den kargen Nachkriegsjahren.

Das Kohle fringsen wurde eingeleitet durch den gellenden Pfiff einer Dampflokomotive, die schon in der Porta Rhenania, dem Einschnitt, auf sich und den langsam durch Schladern fahrenden Kohlezug aufmerksam machte, der aus dem Ruhrgebiet kommend für die Hüttenwerke des Siegerlandes bestimmt war. Auf diesen Pfiff hin liefen wir Kinder aus den Häusern, holten unsere Langen-Handwagen und Kohleschaufeln, rannten Richtung Bahnhof und riefen „Kohle, Kohle“, damit alle Dorfbewohner Bescheid wussten. Der Lokomotivführer hatte inzwischen seine Fahrt auf Schritttempo verlangsamt, um der Bevölkerung in Bahnhofsnähe das Aufspringen zu ermöglichen. Die größeren Kinder und die Jugendlichen sprangen auf die Kupplungen der langsamen Waggons und von dort nach oben auf die Ladeflächen mit den Kohlebergen. Von dort schaufelten sie so schnell und so viel sie konnten die Steinkohlebrocken runter auf den Bahndamm. Dort sammelten wir kleineren Kinder sie ebenso rasch auf und verstauten sie in den mitgebrachten Handwagen und Säcken. Einige Erwachsene, vor allem ältere, die sich von ihren sonstigen Arbeiten hatten freimachen können, halfen ebenfalls mit. Während dieser Sammelaktion fuhr der Zug ganz langsam durch (alternativ: am Bahnhof vorbei) den Bahnhof durch und am Ende pfiff die Lokomotive erneut laut, um die Aufsitzer zu warnen. Die sprangen dann rasch ab, bevor der Güterzug wieder beschleunigte. Diese Aktionen wiederholte der Lokomotivführer an allen kleineren Bahnhöfen auf der Strecke.

Ähnliche Fringsereien gab es auch manchmal bei anderen Gütertransporten wie Holz, Kartoffeln und Kohlköpfen. Die waren dann schwerer und gefährlicher zu organisieren, weil sie nicht durch entsprechend langsame Fahrt des Lokomotivführers unterstützt wurden, und daran nahmen eher nur die größeren Jugendlichen teil. Außerdem war man in der Bevölkerung zurecht skeptisch, ob so was noch durch den Kardinalsfreibrief gedeckt war. Das war es sicher nicht bei den in jener Zeit weit verbreiteten Wildereien mit Gewehren, dem Ströppen, das war das Fallenlegen, von Kaninchen und Hasen und dem heimlichen Angeln oder Fangen von Forellen mit der Hand, das wir Kinder recht früh von den Älteren erlernten. Völlig unbegreiflich war es für uns allerdings, dass unser Lieblingssport im Herbst, das Klauen oder Fringsen von Obst von den Bäumen in diversen Nachbarsgärten so hartnäckig von den Eigentümern verfolgt wurde, denn wenn wir bei der gleichen Familie zur Haustür reinspazierten und drum baten, bekam jeder seinen Apfel. Also wozu das Theater, wenn wir uns mal selbst bedient hatten! Manche von uns schafften es beides hinzukriegen: heimliche Selbstbedienung und erfolgreiches Betteln!

 


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