Skip to main content

Im Paradies

Text | Personen | 01.07.1952

Im Paradies

von Frieder Döring

Der Schöpfer unseres Paradiesgartens in Schladern war unser Opa mütterlicherseits, Friedrich Wilhelm Pickhardt, der das Grundstück gegenüber dem Schladerner Friedhof von seiner früh verstorbenen Frau Wilhelmine, geborene Peters, aus der Schneiders-Linie, geerbt hatte. Er machte in den Nachkriegsjahren einen Obstgarten mit vielen Apfelbäumen daraus, in den er ein hübsches grünweißes Gartenhäuschen bauen ließ. Dorthin kam er gerne sonntagnachmittags im Sommer zur Kaffeejause und hatte es dazu mit gemütlichem Sofa, Sesseln und Tisch ausstaffiert. In der übrigen Zeit blieben die Häuschentüre und das Gartentor offen, wie fast alle Türen damals in Schladern. Das sprach sich in der Schladerner Jugend schnell herum, und da man die Tür auch von innen verschließen konnte, entwickelten sich sogar gewisse Belegungsabsprachen unter den Jungens über die Reihenfolge der Besuchszeiten mit der Freundin dort, vorzugsweise in der Dämmerung. So kam in Schladern sehr schnell der Name „In Pickhardts Paradies“ auf, oder kurz „Im Paradies“. Auf kleinen Zettelchen, die anschließend schnell zu vernichten waren, erhielten die Mädchen Einladungen wie: „20 Uhr, Im Paradies“ und wussten dann, dass es dabei um ein Kapitel von „Jugend forscht“ ging. Die Bibelfestigkeit war damals erstaunlich: Garten, Apfelbäume, Erkenntnis und sogar der nahe Friedhof zur Mahnung nach dem Sündenfall waren versammelt. Bloß die Schlange schien zu fehlen. Stattdessen gab es damals viele Feuersalamander im Paradies. Heute sind sie verschwunden. Die Schlange haben wir aber später auch noch entdeckt mit ihrer ganzen Familie: Vater, Mutter und drei Ringelnatter-Kinder sonnten sich häufig im Sommer auf der Steinterrasse vor dem neuen Gartenhaus, das wir dann gebaut haben.

Nachdem der Opa 1952 gestorben war, kam unser Vater auf die Idee, den Paradiesgarten und das Gartenhaus mehr für die Familie als für die Dorfjugend zu nutzen. Also baute er es mit Hilfe seiner Söhne vom Standort im oberen Garten ab und im unteren Teil wieder auf, wobei wir es durch einen Pi mal Daumen konstruierten Anbau auf die doppelte Größe brachten. Unser Papa hatte zwar wenig Ahnung vom Hausbau, war aber Ingenieur. Und dem „Inschenör ist nix zu schwör!“ Also wurden Fundamente gegossen, Hölzer, Balken Bretter aufgesetzt und vernagelt und verschraubt. Und wenn der Samstagsarbeitstag zu Ende war, schrieb er uns eine lange Liste auf von Materialien, die wir während seiner Arbeitswoche im Stahlwerk Rheinhausen zu beschaffen hatten, damit wir sie am nächsten Samstag mit ihm weiterverarbeiten konnten. Das waren Steine, Hölzer, Draht, gebrauchte Nägel und Schrauben, Eisenschrott als Betonmonierung und vieles mehr, von dem uns einfiel, dass es brauchbar sein könnte. Und das alles hatten wir nicht etwa zu kaufen, sondern es wurde requiriert, wie das im Soldatenjargon hieß. Das heißt, wir klapperten mit unseren Langen-Handwagen erst die vielen kleinen illegalen privaten Müllkippen in der Umgebung ab, dann die großen Kippen der Industrie, wie von Elmores, Messerschmidt, Krause, dann die Abfallhaufen der Handwerker und Kleinindustriellen und schließlich noch die abbruchreifen oder abgebrochen Häuser. Bei letzteren mussten wir ordentlich betteln, oder kötten, wie man das nannte. Unser Papa war sich sehr bewusst, dass wir Kinder dabei die besseren Chancen hatten, denn damals waren alle hinter Altmaterial her, unter anderem die „Klüngelskerle“, die mit Pferdewagen und Handglocke durch den Ort zogen und unsere größten und skrupellosesten Konkurrenten waren.

Am nächsten Samstag wurde dann unser gesammeltes Baumaterial wieder verarbeitet, wobei der Kreativität und Phantasie kaum Grenzen gesetzt waren. Ein schönes Beispiel für den Einfallsreichtum unseres Papas war der Kamin-Bau. Nachdem wir das Dach mit großem Dachüberstand und auch mit aus Brettern selbstgefertigten Dachrinnen komplett fertig hatten, fiel ihm ein, dass wir in der Hütte auch einen Ofen brauchten und für den Ofen einen Außenkamin. Den nun durch den Dachüberstand und die montierten Dachrinnen nach oben raus zu mauern, kam ihm zu kompliziert und zu aufwändig vor. Also haben wir den Kamin mit überkragenden Ziegelsteinen kurvig um den Dachüberstand und die Dachrinne herum hoch gemauert bis er genügend über das Dach hinausragte. Und so hat er rund 65 Jahre treu und anstandslos seinen Dienst versehen und diese ungewöhnliche Konstruktion wurde zum Alleinstellungsmerkmal des neuen Gartenhäuschens. Gleichzeitig hatte uns der Papa wieder mal demonstriert, dass es für alle Probleme mehrere Lösungen gibt, und dass man sich nicht scheuen soll, seine Phantasie zu gebrauchen, auch wenn man dann öfters von den konventionelleren Menschen belächelt wird.

Als wir dann nach zwei Sommern im Großen und Ganzen mit dem Prachtbau fertig waren, wurde er zum Lieblingsaufenthalt der Eltern und Tanten fürs Kaffeetrinken am Sonntagnachmittag, wenn das Wetter einigermaßen danach war, wie vorher das kleine Häuschen für den Opa. Aber richtig fertig wurde unser Papa zu seinen Lebzeiten nicht mehr damit, und die frühere paradiesische Funktion der ersten Laube hat es auch ab und zu noch mal erhalten in der Enkel- und Urenkelgeneration. Doch davon gleich mehr! Jedenfalls behielten mein Bruder und ich unseren Job, unaufhörlich weitere Baumaterialien anzuschleppen und im Paradiesgarten abzulagern. Denn unser Papa hatte noch viele Pläne zum Ausbau der Gartenvilla. Als wir dann im fortgeschrittenen Jugendalter waren, entzogen wir uns diesen Pflichten zunehmend mit Hilfe von wirklichen oder fiktiven Terminen in Sportvereinen, zum Geigen- und Klavierunterricht oder dem Lernen mit Schulkameraden. Unser Papa fand schnell Ersatz für uns unter der Dorfjugend, vor allem den Acht- bis Zwölfjährigen, die er mit Bonbons und Groschen bestach, damit sie ihm halfen. Besonders nach seiner Pensionierung widmete er sich ganztätig dem weiteren Ausbau seines Traumschlosses im Paradies. Immer umgeben von einer Schar Kindern wirkte er, wenn er da hochzog, von weitem wie der Rattenfänger von Hameln.

Als er älter geworden war, nahmen seine handwerklichen Aktivitäten immer mehr ab. Jedoch die Materialsammlung mit seinen Hilfstruppen ging weiter. Dadurch gab es bald im ganzen Paradies verstreute Häufchen von diversem Baumüll: Drahthaufen, Steinhaufen, Holzhaufen und allerlei Undefinierbarem. Da wir Kinder inzwischen alle außer Haus waren, die Mutter mit ihrem Blumengarten in der Schulstraße genug zu tun hatte, und der Papa mit seinem einen Arm auch die Sense nicht schwingen konnte, verwilderte der Paradiesgarten ein paar Jahre auf schaurig schöne Weise und wurde zum Paradies der Kleintiere. Schließlich hatte ich mein Staatsexamen geschafft und wollte das mit einer Gartenparty im Paradies feiern. Da die Eltern in diesem Sommer meinen Bruder in Marokko besuchten, hatte ich die drei Wochen genutzt, vom Examensende bis zum Antritt meiner ersten Stelle mit Frau und Kindern ins Gartenhaus zu ziehen und den ganzen verwilderten Garten aufzuräumen, zu mähen, Sträucher zu entfernen und vor allem den angesammelten Baumüll zu entsorgen. Für letzteren hatte ich zwei besondere Plätze ausgesucht.

Zum einen hatte ich mit den überschüssigen Steinen einen großen Terrassenhügel vor dem Gartenhaus aufgebaut, mit Erde überhäuft und dann plattiert. Das wurde der neue Kaffeeplatz und ist es bis heute. Zum anderen hab‘ ich mit allem Draht, Eisenschrott und sonstigem Material einen weiteren Hügel aufgeschüttet am unteren Ende der Einfahrt, ihn ebenfalls mit Erde und Platten bedeckt, um darauf ein Auto abstellen zu können. Nach den drei Wochen Arbeit bei Sommerwetter, in denen die Kinder sich herrlich hatten austoben können, sah alles blitzsauber aus mit Blumenrabatten, feinen Rasenflächen und frisch grün gestrichenem Gartenhaus, ein Paradies eben. Dann kamen die Eltern zurück, wir holten sie vom Bahnhof ab und schleppten sie, weil es Kaffeezeit war, gleich rauf ins Paradies zum Überraschungsempfang dort. Die Mutter war hellauf begeistert über den schönen Anblick. Der Vater aber zog ein langes Gesicht, rannte von einer Ecke des Gartens zur anderen und fragte mich dauernd, wo seine Steine, sein Draht, seine Eisenteile hingekommen seien. Nun gut, ich hab ihm das erklärt. Also die Steine unter der Terrasse als Unterbau, was er noch hinnahm. Und der Draht und die Eisenteile unter dem Autoparkplatz da vorne. Da wetterleuchtete sein Gesicht und schließlich grinste er, zog mich mit sich zu dem Schutthügel und zeigte dann auf den Boden. Hier, sagte er, genau hier drunter befindet sich im Boden der Wasseranschluss fürs Gartenhaus, den ich vor Jahren hab legen lassen. Und wenn Du da dran willst, musst Du das alles wieder aufbuddeln. Dann trank er zufrieden seinen Kaffee.

In den nächsten Tagen war ich tatsächlich unter seiner Aufsicht beschäftigt, den ganzen Eisenschrott wieder abzutragen, den Wasseranschluss freizulegen und mit einem Wasserhäuschen zu überbauen, bevor ich den Parkplatzhügel rekonstruieren konnte. Inzwischen hatte mein Papa alle ihm liebgewordenen Metallteile aus dem Wust wieder rausklamüsert und damit schöne neue Baumüll-Häufchen in entfernteren Gartenbereichen angelegt. Die ganze Garten-Aktion hatte vor allem den Vorteil, zu erleben, wie wohl sich die Kinder hier fühlten, sodass wir ein paar Jahre lang danach viele Sommer- und Herbsturlaube mit ihnen im Paradies verlebten. Und nach uns taten das meine Schwestern mit ihren Familien auch noch lange Jahre so. Als die Enkel unseres Papas, die Urenkel unseres Opas dann größer geworden waren, entdeckten sie auch wieder die anderen Qualitäten des Paradieses und machten ihre „Jugend forscht“-Erfahrungen mit ihren Freundinnen und Freunden dort wie ehedem die Schladerner Jugend in der Nachkriegszeit!



 


Taubenweg