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Die Schlittenbahn im Oberdorf

Text | Dorfgeschichten | 01.01.1952

Die Schlittenbahn im Oberdorf

von Frieder Döring

In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es in den Wintern noch verlässlichen Schneefall in Schladern. Wir hatten damals fast regelmäßig von Anfang Januar bis Mitte Februar Frost und fünf bis zwanzig Zentimeter Schnee. Es gab kaum Autos, es wurde nicht gesalzt, und nur die Hauptstraßen wurden geräumt, auf den übrigen wurde der Schnee festgetrampelt. Die Erwachsenen stöhnten, für uns Kinder war es die schönste Zeit im Jahr, obwohl wir ja fast nur schöne Zeiten hatten, damals. Wir waren viele Kinder im Dorf, ganze Horden, und die kleinen Dorfstraßen gehörten uns. Unsere Spiele wurden meist respektiert, nicht immer der Lärm, den wir dabei machten. Aber die Erwachsenen waren froh, wenn sie uns aus den Füßen hatten.

So „bauten“ wir uns immer nach dem ersten Schnee eine Super-Rodelbahn auf der Bergstraße (heute Bodenbergstraße) runter bis zur Waldbröler Straße aus: Von der Einmündung der Bodenbergstraße in die Straße Zum Sprietchen war die rechte Straßenseite für unsere Bahn beschlagnahmt, am Oberen Hof vorbei bis zum unteren Hof, dort an der großen alten Eiche entlang über die Steilhangwiese bis ins Sumpfgebiet an der Waldbröler Straße gegenüber dem Haus Schladern. So eine lange und schnelle Bahn gab‘s nirgendwo sonst. Und das Erstaunlichste war, sie wurde von allen Anwohnern geduldet und trotz starker Vereisung nicht zerstört durch Salz- oder Aschestreuung, sondern blieb meist sechs Wochen intakt und heftig frequentiert.

Jeden Nachmittag nach dem Essen und den Schulaufgaben strömten die Kinder in Scharen mit ihren Schlitten von der Firma Langen zur Rodelbahn. Das Lieblingsspiel war Schlitten zusammenkuppeln. Ein Junge legte sich bäuchlings auf einen kleinen Schlitten und hakte sich mit den Füßen in einen zweiten ein, auf dem lag wieder ein Junge, der sich in einen dritten einhakte, und so weiter bis zu sechs, acht Schlitten hintereinander. Das war nicht ungefährlich, denn das Tempo war enorm und am unteren Hof war die Schlingerei um mehrere scharfe Kurven gewaltig. Mancher Schlittenzug endete mit Karacho an der dicken Eiche. Von schweren Verletzungen außer Schrammen und Schürfungen ist mir aber nichts bekannt geworden. Und die stammten meist von dem Stacheldrahtzaun, der die Wiese unterhalb der Eiche abgrenzte und den wir für die Durchfahrt hochgeschoben und verdröselt hatten, sodass man unter einem niedrigen Durchschlupf drunter her sausen musste, was nicht immer ohne Schrammen klappte. Noch schwieriger wurde es für die Großschlitten-Kolonnen, bei denen mehrere große Schlitten aneinandergebunden und mit ein bis zwei Dutzend Kindern beladen wurden, vor allem Mädchen. Und die machten den meisten Lärm! Ihr wisst ja noch wie Mädchen kreischen können, oder? Heute kann man das im Fernsehen bei Rock-Konzerten hören. Damals hatten wir kein Fernsehen, aber beim Schlittenfahren in Schladern war genauso der Teufel los.

Erwachsene hatten nichts zu suchen auf unserer Rodelbahn. Aber die wären damals auch nicht auf die Idee gekommen. Selbst die Dreijährigen wurden ihren großen Geschwistern an die Hand gegeben, und die hatten auf sie aufzupassen. Einen Kindergarten gab es ja auch noch nicht. Dafür gab es aber ein Miterziehungsrecht aller Erwachsenen im Dorf. Und so, wie wir in jedes Haus reinmarschieren konnten, wenn wir Hunger oder Durst hatten, waren auch alle Dorfbewohner berechtigt, mal einzugreifen, wenn Kinder was Schlimmes oder Dummes machten oder sich brutal prügelten. Und dann wurden auch Ohrfeigen oder Kopfnüsse oder Klapse auf den Po verteilt und die Eltern waren sehr einverstanden damit (s.a. „Die Feuerteufel“).

Aber wir waren meist um die 50 Kinder und Jugendliche in allen Altersklassen, und zu diesem großen Winterereignis durften auch wir Jüngeren, also die 8-14-Jährigen ausnahmsweise noch mal abends nach dem Abendessen für eine Stunde zu den Älteren raus und weiter rodeln, denn im Dunkeln war es am tollsten mit der Rodelei und den vielen Zusammenstößen dabei. Es gab nämlich noch keine richtige Straßenbeleuchtung, sondern nur ein paar armselige Funzeln. Das nutzten die größeren Jungs und Mädchen natürlich auch noch zu anderen Späßen als nur Schlittenfahren aus, und wir Kleinen schauten uns das gerne an.

Es wurden selbstverständlich auch Schlittenrennen veranstaltet und Gleitschuh-Wettläufe, Schneeballschlachten und Einseifungen oder Waschungen mit Schnee, sowie allerlei artistische Vorführungen auf und mit den Fahrgeräten. Und wenn wir dann gegen neun Uhr abends, das war der späteste Termin, nach Hause kamen, waren wir klatschnass von Kopf bis Fuß, hatten blaue Finger und Lippen und konnten uns kaum noch ohne Hilfe ausziehen, so todmüde waren wir. Ins Bett konnten wir uns erst fallen lassen, wenn wir die nassen Klamotten aufgehängt und die Schuhe mit Zeitungspapier ausgestopft hatten. Die Eltern waren zufrieden, wenn wir so müde waren, dass wir sofort einpennten, und froh, wenn die Klamotten ganz geblieben waren. Und wir träumten davon, dass in der Nacht noch mehr Schnee fiel, sodass die Schulen auch dicht machten, der Busverkehr ausfiel und wir den ganzen Tag auf unserer Rodelbahn toben konnten.

 


Bodenbergstraße